Benachteiligte Kinder sehen in sich selbst zu wenig Talent

Dr. Christina Bauer von der Universität Wien hat erforscht, wie Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status über sich denken und welche Faktoren das Selbstbild beeinflussen.

Sozioökonomisch benachteiligte Kinder schätzen ihr Talent trotz gleich starker Schulleistungen oftmals geringer ein als gleichaltrige Mitschülerinnen und Mitschüler. Das ist das Ergebnis von insgesamt sechs Studien mit mehr als 3000 Teilnehmenden. Die Sozialpsychologin Dr. Christina Bauer von der Universität Wien hat sie mit ihrem Team durchgeführt und erläutert ihre Forschungsergebnisse im Interview.

Redaktion: Frau Dr. Bauer, Sie haben sich damit befasst, wie Menschen mit sozioökonomisch niedrigem Status sich selbst einschätzen und wie diese Bewertung ihren Bildungs- und Karriereweg beeinflusst. Was haben Sie dabei herausgefunden?

Dr. Christina Bauer: Wir konnten in unserer Studie feststellen, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, speziell solche, die mit Eltern aufgewachsen sind, die keinen Universitätsabschluss haben, sich für weniger talentiert halten als Menschen, die aus bildungsnahen und materiell besser gestellten Familien stammen. Mit Talent meinen die Menschen dabei üblicherweise eine angeborene Begabung. Und ihre Wahrnehmung dazu ist relativ spezifisch. Es ist also nicht so, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status sich auf allen Ebenen als schlechter wahrnehmen. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass es in Feldern wie Anstrengungsbereitschaft oder Fleiß keine Unterschiede in der Selbsteinschätzung gibt.

Redaktion: Wie kommt es zu dieser abwertenden Selbsteinschätzung in Bezug auf Talent bei Menschen mit sozioökonomisch niedrigem Status?

Bauer: Wir gehen davon aus, dass diese differenzierte Wahrnehmung vom eigenen Talent durch Sozialisationsprozesse zustande kommt. Menschen lernen mit der Zeit, wie sie selbst wahrgenommen und behandelt werden, sie lernen Stereotype kennen: Diese Kategorie von Menschen wird etwa basierend auf Geschlecht, Hautfarbe, Sprache oder Hobbys von anderen Menschen als talentiert wahrgenommen, jene nicht. Und sie bekommen Eindrücke wie: Wer wenig Talent hat, muss sich viel anstrengen, um die gleiche Leistung zu bringen. Gerade Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund machen oft die Erfahrung, dass sie sich mehr anstrengen müssen, um den gleichen Erfolg zu erreichen wie Menschen aus besseren Verhältnissen. Dabei liegt das nicht daran, dass sie weniger talentiert sind, sondern daran, dass sie weniger Ressourcen und Kapital zur Verfügung haben, etwa dass ihnen als Kind nicht täglich vorgelesen wurde. Hier entstehen leicht fehlgeleitete Erklärungen, weil die Betroffenen schlecht erkennen können, ob jemand mit mehr oder weniger Privilegien aufgewachsen ist. Und es ist belegt, dass Menschen zu der einfachen Schlussfolgerung neigen, möglichst viel über die Eigenschaften einer Person zu erklären und weniger auf deren Rahmenbedingungen und Situation zu schauen. Man nennt das den fundamentalen Attributionsfehler, dieser ist in der Forschung gut belegt. In diesem Fall äußert er sich darin, dass die eigene Benachteiligung von Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status missinterpretiert wird, indem man sich fälschlicherweise mangelndes Talent unterstellt.

„Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status und einer niedrigen Talentwahrnehmung fühlen sich in ihrem Potential inhärent limitiert, halten ihr vermeintliches Defizit also unzutreffenderweise für ein Persönlichkeitsmerkmal.“

Dr. Christina Bauer

Redaktion: Zeigt sich diese missgeleitete Selbstwahrnehmung schon im Schulalter? 

Bauer: Unsere Studien zeigen diese Effekte bereits bei 14-Jährigen, sie sind ähnlich stark ausgeprägt wie bei Studierenden. Für Talentzuschreibungen, die auf Geschlechtervorstellungen beruhen, wissen wir aus anderen Studien, dass diese bereits bei Kindern im Alter von fünf bis sechs Jahren beobachtet werden können. Daher kann man sich vorstellen, dass auch die Selbstwahrnehmung in Bezug auf Talent, basierend auf dem sozioökonomischen Status, bereits in diesem Alter vorhanden ist.

Redaktion: Welche Konsequenzen hat diese unzutreffende Selbstwahrnehmung für Schülerinnen und Schüler aus sogenannten bildungsfernen Schichten?

Bauer: Es zeigt sich, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status und einer niedrigen Talentselbstwahrnehmung in Settings und Umgebungen wie Schulen und Universitäten, in denen Talent potentiell ein wichtiger Faktor ist, tendenziell unsicherer sind. In Befragungen berichten sie von Ängstlichkeit und geben an, dass sie generell ein geringeres Wohlbefinden haben. Sie fragen sich Dinge wie „Kann ich das denn überhaupt?” und fühlen sich ein Stück weit machtlos, weil sie gegen fehlendes Talent ja nichts tun können. Sie fühlen sich in ihrem Potential inhärent limitiert, halten ihr vermeintliches Defizit also unzutreffenderweise für ein Persönlichkeitsmerkmal. 

Redaktion: Beeinflusst das auch Entscheidungen hinsichtlich ihres Bildungswegs, etwa den Entschluss zu einem Studium?

Bauer: Tatsächlich haben wir bereits erste Hinweise darauf gefunden, dass Menschen, die sich für weniger talentiert halten, sich auch weniger trauen, ein Studium anzufangen. Wir forschen momentan noch daran. Aber bisherige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass, selbst wenn sich solche Menschen grundsätzlich für ein Studium entscheiden, gewisse Fächer wie Philosophie und einige MINT-Fächer wie Mathematik und Physik weniger in Betracht gezogen werden, weil sie unterstellen, dass man speziell für diese Fächer besonders talentiert sein müsse, um sie studieren zu können. Das heißt, die niedrige Talentwahrnehmung wirkt sich unseren ersten Erkenntnissen und Vermutungen nach nicht nur darauf aus, ob Menschen studieren, sondern auch was sie studieren.

„Die Erfahrung, sich verbessern zu können, ist die beste Medizin gegen den Gedanken, dass man durch sein Talent beschränkt ist.“

Dr. Christina Bauer

Redaktion: Wie kann man dieser Tendenz zur geringen Selbstwahrnehmung bei Menschen mit sozioökonomisch niedrigem Status entgegenwirken?

Bauer: In unseren Bildungseinrichtungen, insbesondere den Schulen, muss deutlicher kommuniziert werden, dass es bei der Leistungsanforderung im Kern nicht um Talent geht, sondern um harte Arbeit, Fleiß und Motivation. Das schließt zwar nicht automatisch den Gap bei der Selbstwahrnehmung von Menschen mit sozioökonomisch niedrigem Status. Aber die negativen Auswirkungen wie Stress, Angst und das Gefühl, nicht dazuzugehören, nehmen deutlich ab. Es ist wichtig, so etwas als Kultur zu verstehen, die sich auf vielen Ebenen widerspiegeln muss. Es reicht nicht, einmal am Anfang des Schuljahres zu sagen: „Also Leute, uns geht es hier um Motivation, nicht um Talent.” Diese Haltung spiegelt sich in vielen Details wider – etwa darin, wie ich Feedback gebe. Gebe ich nur eine Note oder nehme ich die Idee, dass Menschen sich entwickeln und durch Anstrengung etwas erreichen können, ernst und weise konstruktiv auf Fehler und Verbesserungspotential hin? Die Erfahrung, sich verbessern zu können, ist die beste Medizin gegen den Gedanken, dass man durch sein Talent beschränkt ist.

Redaktion: Was würden Sie Lehrkräften konkret empfehlen, die eine solche Kultur etablieren wollen, die Wert auf Motivation und Arbeit legen statt auf Talent?

Bauer: Ich denke, es ist wichtig, hier vor allem ehrlich auch die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Wir wissen aus der Forschung, dass Lehrkräfte Menschen mit höherem sozioökonomischem Status mehr zutrauen. Das ist natürlich ein wichtiger Faktor, durch den sich entsprechende Selbstwahrnehmungen entwickeln können. Allein das Wissen um diese Wahrnehmungsverzerrung kann dabei helfen, sich als Lehrkraft nochmals zu hinterfragen: „Was hat das Kind wirklich für Leistungen erbracht? Wie hat es sich verbessert? Wie kann es sich verbessern?” Gleichzeitig ist es wichtig, im eigenen Verhalten wirklich darauf zu achten, zu kommunizieren, dass Anstrengung und Motivation wichtig sind und nicht Talent. Das bedeutet zum Beispiel nicht zu sagen: „Du bist aber sehr schlau”, sondern: „Du hast dieses oder jenes ja richtig toll gemacht.” Unter diesem Aspekt ist zum Beispiel wie angedeutet auch das konkrete konstruktive Feedback viel wichtiger als der Fokus auf die Schulnoten. Kinder brauchen konkrete, motivierende Hinweise, wie sie etwas besser machen können.

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Redaktion: Gibt es politische und gesellschaftliche Konsequenzen aus Ihrer Forschung? Was sollte sich Ihrer Meinung nach ändern, um der sich selbst limitierenden Selbstwahrnehmung von Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status vorzubeugen?

Bauer: Hier gibt es sicherlich viele mögliche Ansatzpunkte. Konkret haben wir derzeit etwa das Thema Studieneingangstests im Blick. Hier sehen wir Evidenz, dass diese besonders für Erst-Studierende abschreckend sein können, da sie oftmals als selektierende IQ- oder Talenttests wahrgenommen werden. Wir wissen bereits aus der Forschung, dass Erst-Studierende schlechtere Leistungen in diesen Tests zeigen als aufgrund ihrer Noten zu erwarten ist. Wir sehen sogar, dass Erst-Studierende schon im Vorfeld sich aufgrund der Wahrnehmung dieses Tests dagegen entscheiden, überhaupt an solchen Prüfungen teilzunehmen, weil sie inhärent das Gefühl haben, sie haben dort keine Chance und können auch nur bedingt etwas dagegen tun. Hier müssen wir als Gesellschaft Wege finden, benachteiligte Menschen zu bestärken, statt sie frühzeitig zu entmutigen.

Redaktion: Frau Doktorin Bauer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Christina Bauer ist Forscherin im Bereich Sozialpsychologie an der Universität Wien. Sie beschäftigt sich damit, wie Stigmatisierungsprozesse Teilhabe-Chancen von Minderheiten beeinträchtigen und was dagegen getan werden kann.