Wie das soziale Umfeld die Selbsteinschätzung von Kindern beeinflusst

Unterschiede bei der Selbsteinschätzung im Grundschulalter haben neuester Forschung nach mit dem sozioökonomischen Status zu tun – und dafür gibt es Lösungen, wie ein Forschungsteam jetzt herausgefunden hat

Professor Fabian Kosse und seine Forscherkolleginnen und Forscherkollegen haben herausgefunden, dass Kinder aus unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedlich gut darin sind, sich selbst einzuschätzen. Und sie haben auch eine Möglichkeit gefunden, bestehende Defizite auszugleichen.

Woher kommt eigentlich Ungleichheit in unserer Gesellschaft und welchen Anteil hat daran das Selbstbild von Individuen? Das ist eine Frage, die Professor Fabian Kosse, Inhaber des Lehrstuhls für Data Science in Business and Economics an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Würzburg, schon länger umtreibt. Und es war einer der Gründe,weshalb er sich in seiner Forschung jenseits der üblichen ökonomischen Untersuchungen, die vor allem erwachsene Marktteilnehmer in den Blick nehmen, auf die psychologisch interessanten Entwicklungsjahre im Grundschulalter konzentrierte. Liegen hier zumindest Teilerklärungen für später so ungleich verlaufende Biographien?

Ein Bereich, den Prof. Kosse zusammen mit Prof. Armin Falk, Prof. Hannah Schildberg-Hörisch und Prof. Florian Zimmermann in einer aktuellen Studie in den Blick nahm, war die Selbsteinschätzung von Kindern im Grundschulalter. Um diese zu messen, begannen die Forscher bereits 2011 eine Untersuchung mit damals etwa 700 Schülerinnen und Schülern aus der zweiten Klasse. Für diese entwickelten die Forscher ein Spiel, bei dem die teilnehmenden Kinder Sterne gewinnen konnten – eine Spielwährung, die sie später gegen Spielzeug tauschen durften. Die Aufgabe der Acht- bis Neunjährigen bestand darin, auf einer Bahn zehn Murmeln in ein Loch zu rollen. Die Kinder durften dabei auswählen, auf welcher Bahn sie spielen wollten. Sieben Bahnen mit unterschiedlich großen Löchern und somit unterschiedlich hohen Schwierigkeitsgraden standen zur Auswahl. Die mit einem höheren Schwierigkeitsgrad boten als Gewinn auch eine höhere Anzahl an Sternen. In einer Trainingsrunde konnten die Kinder vorab ihre Fähigkeit im Murmeln testen, dann wählten sie die Bahn, an der sie sich versuchen wollten. Schafften sie es, in fünf von zehn Versuchen die Murmel zu versenken, erhielten sie die für die Bahn vorgesehene Anzahl an Sternen. Wenn nicht, gingen sie leer aus.

Kritischer Faktor „Selbsteinschätzung”

Das Ergebnis: „Die Kinder aus höheren sozioökonomischen Schichten können nicht besser murmeln, sie treffen nicht besser in der Proberunde”, erklärt Kosse. Aber: „Sie gewinnen mehr Sterne, sie können sich besser selbst einschätzen als Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status.”

Das ist nicht unwesentlich. Selbsteinschätzung, die Fähigkeit zu erkennen, was man kann oder nicht kann, sei „eine Schlüsseleigenschaft für den Lebensverlauf”, sagt Kosse. In der Einleitung ihrer jetzt im “Journal of Public Economics” veröffentlichten Studie schreiben Kosse und seine Co-Autorin und -Autoren: „Viele Entscheidungen von wirtschaftlicher Relevanz beinhalten ein Element der Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten. Soll ich studieren oder eine Ausbildung machen? Soll ich einen mehr oder weniger anspruchsvollen Berufsweg wählen? Soll ich ein Restaurant eröffnen oder nicht? All diese Entscheidungen erfordern eine vorherige Reflexion der eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, und genauere Selbsteinschätzungen führen im Durchschnitt zu besseren Entscheidungen. Wer weiß, was er kann, kann mehr aus sich machen, so das Credo der Forschenden.

Langfristige Auswirkungen eines Jahres Mentoring

In diesem Kontext ist der zweite Teil der Studie besonders interessant: das Mentoring-Programm. Einem zufällig ausgewählten Teil der Kinder mit sozioökonomisch schwächeren Kontexten wurde für ein Jahr ein Mentor zur Verfügung gestellt. „Die haben allerdings kein Murmeltraining mit denen gemacht”, erklärt Kosse. Die Tandems aus Kind und erwachsenem Begleiter, organisiert vom Verein „Balu und Du”, unternahmen stattdessen einmal die Woche etwas miteinander, woran beide Spaß hatten, so der Forscher. Das konnten Aktivitäten wie Backen, Basteln, Fußball spielen oder Zoobesuche sein. Das Ziel bei jedem dieser gemeinsamen Nachmittage war das gleiche und wird durch den englischen Fachbegriff „informal learning”, zu Deutsch „informelles Lernen“ bezeichnet. „Es geht darum – bei was auch immer – Erfahrungen zu machen und Feedback zu bekommen. So lernen die Kinder etwas über sich selbst, unter anderem sich selbst realistischer einzuschätzen”, erklärt Fabian Kosse.

Und tatsächlich zeigte dieser breit angelegte Mentoring-Ansatz in der Studie Wirkung. Kosse: „Kinder aus bildungsfernen Schichten, die nach einem Jahr Mentoring das Murmelspiel spielten, hatten kein Defizit mehr bei der Selbsteinschätzung gegenüber Kindern aus besseren sozioökonomischen Verhältnissen.“

Zusätzliche Effekte

Und nicht nur das, die Forschenden kontrollierten auch weitere Variablen. So konnten sie unter anderem nachweisen, dass die Kinder aus sozioökonomisch schwierigeren Verhältnissen, die den Mentor in ihrer Grundschulzeit hatten, öfter aufs Gymnasium gehen. „Das Spannende ist, dass dieser Effekt persistiert. Inzwischen sind einige der Kinder in der zehnten Klasse auf dem Gymnasium. Sie sind also nicht aufs Gymnasium gekommen und nach ein, zwei Jahren wieder runter”, berichtet Fabian Kosse. Die Forschenden konnten zudem nachweisen, dass auch soziale Fähigkeiten wie die Bereitschaft, anderen zu vertrauen und mit ihnen zu teilen, bei den Kindern mit Mentoring-Training besser ausgeprägt sind.

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Woher kommen diese Effekte? Und was ist überhaupt der Grund für die Lücke zwischen Kindern aus sozioökonomisch schwierigeren Verhältnissen gegenüber jenen aus besseren? Mit letzter Sicherheit kann das Fabian Kosse nicht sagen, aber die Daten aus der Studie geben ihm plausible Ansätze. „Wir können in unseren Ergebnissen sehen, dass das Mentoring-Programm besonders dann wirkt, wenn das Kind in seinem Umfeld wenig Erlebnisse hat und wenig Erfahrungen sammelt. Wir folgern daraus, dass man Stimuli, also Erfahrungen, Anregungen und Feedback braucht, um über sich selbst lernen zu können.” Im Mentoring-Programm bekommen die Kinder genau das: „Die Mentorinnen und Mentoren halten den Kindern in gewisser Weise einen Spiegel vor. Und du musst als Kind in diesen Spiegel blicken, um dich zu sehen und etwas über dich zu lernen. Du lernst zum Beispiel, wie du von rechts aussiehst und kannst dann antizipieren, wie du von links aussiehst.”

Der Schlüssel: Erfahrungen machen

Was bedeutet diese Erkenntnis für das Bildungssystem? Kosse rät, den Fokus darauf zu richten, dass Kinder und Jugendliche Erfahrungen sammeln können. Das sei essenziell, um sich zu einer reiferen, auf das Leben besser vorbereiteten Persönlichkeit entwickeln zu können. „Es lohnt sich, immer wieder danach zu schauen, wie und wo man Kindern Erfahrungen und Feedback ermöglichen kann. Kann ich als Eltern, Lehrkräfte oder Schulleitung eine Umgebung schaffen, in der Kinder möglichst viel über sich lernen können? Eine Lernumgebung, in der möglichst viele verschiedene Erlebnisse möglich sind – und möglichst auch solche, bei denen sie auch einmal eine Form des Scheiterns durchmachen können“, sagt Kosse. „Man kann Kinder nicht vor der Erfahrung schützen, etwas nicht zu schaffen. Diese Erfahrung ist Teil des Prozesses, sich selbst besser kennenzulernen.” Und damit Teil des Wegs zu einer Persönlichkeit, die auch im Erwachsenenleben dank gesunder Selbsteinschätzung gute Entscheidungen trifft.

Zur Person

Fabian Kosse ist Inhaber des Lehrstuhls für Data Science in Business and Economics an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seine Forschung beschäftigt sich mit Themen an der Schnittmenge zwischen Ökonomie, Psychologie und Politikwissenschaft. Ihn interessiert vor allem, wie sich Unterschiede in Fähigkeiten, Persönlichkeit und Einstellungen entwickeln und wie sich diese auf den Bildungs- und Berufserfolg auswirken.