Risiken und Potentiale von algorithmenbasiertem Feedback im Unterricht
Was hinter intelligenter Lernsoftware steckt und wie viel davon Lehrkräfte verstehen müssen
Intelligente Lernprogramme lernen inzwischen selbst hinzu – doch haben wir schon gelernt, mit ihnen umzugehen und sie richtig einzusetzen? Prof. Dr. Ilka Wolter gibt Antworten auf diese Fragen und beleuchtet, wo algorithmenbasiertes Feedback heute steht und wie es Lehrkräfte nützlich sein kann.
Redaktion: Frau Wolter, was sind eigentlich Algorithmen und wie können sie im Kontext Schule eingesetzt werden?
Prof. Dr. Ilka Wolter: Algorithmen sind Vorgehensweisen, um Aufgaben und Probleme zu lösen. Sie stellen bestimmte Regelwerke dar, die Prozesse in mehrere Schritte unterteilen. Auch wenn der Begriff hauptsächlich mit der Informatik verknüpft wird, können Algorithmen nicht nur maschinell von Computern, sondern auch von Menschen formuliert werden. An der Schule werden Algorithmen sehr vielfältig eingesetzt: Algorithmen sind die Grundlage vieler Dinge, die wir schon lange verwenden, etwa wenn wir Suchmaschinen oder in Office-Programmen Stilvorschläge oder Rechtschreibprüfungen nutzen. Und auch Lern-Apps beruhen in der Regel auf Algorithmen, die etwa in Abhängigkeit vom persönlichen Lernfortschritt neue Aufgaben, Schwierigkeitsgrade oder Themen vorschlagen.
Redaktion: Wie hat sich diese Technik inzwischen entwickelt?
Wolter: Heute sind wir in der Verwendung von Algorithmen bei den selbstlernenden Systemen angekommen – diese Entwicklung fassen wir unter dem Begriff maschinelles Lernen zusammen. Diese Systeme nehmen Algorithmen zur Grundlage, aber sind dabei nicht statisch, sondern können sich aufgrund der Informationen, die in das System eingegeben werden, weiterentwickeln, also weiterlernen. So kann moderne Lernsoftware ihre Rückmeldungen auf der Grundlage von Verhaltensweisen oder Lernergebnissen entsprechend anpassen. Das System wird im Idealfall durch den ständigen Mehrgewinn an Informationen im Laufe der Zeit immer besser. Aber es ist natürlich auch sehr davon abhängig, welche Informationen ich hineingebe. Diese maschinell lernenden Systeme haben großes Potential im schulischen Kontext, da sie die Belastung von Lehrkräften herunterschrauben könnten, indem sie ihnen die Beurteilung zum Beispiel von Textaufgaben abnehmen können.
„Die Maschine kann dabei inhaltlich nicht mehr als der Mensch, aber sie kann im Zweifelsfall eine große Unterstützung sein.“
Prof. Dr. Ilka Wolter
Redaktion: Welches weitere Potential sehen Sie beim Einsatz von Algorithmen in der Schule?
Wolter: Grundsätzlich ist es sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für das Lehrpersonal sehr nützlich, eine gewisse Kompetenz bezüglich dieses Themas auszubilden. Ich muss gewiss nicht fähig sein, jeden einzelnen Algorithmus nachzuprogrammieren, aber es ist wichtig, zu verstehen, wie Algorithmen funktionieren und ich sollte wissen, welche Potentiale und Risiken sie mit sich bringen, weil wir im Alltag auch außerhalb der Schule oft mit dieser Technologie konfrontiert werden. Im Schulkontext bieten diese Systeme beispielsweise beim adaptiven Lernen einige Vorteile. Algorithmenbasierte Programme können im Einzelfall viel schneller analysieren, was einzelne Schülerinnen und Schüler bereits können und darauf basierend Aufgaben heraussuchen, die zu ihrem Schwierigkeitsniveau passen. Die Maschine kann dabei inhaltlich nicht mehr als der Mensch, aber sie kann im Zweifelsfall eine große Unterstützung sein, indem sie diese Aufgabe gleichzeitig und sehr schnell für eine große Gruppe von Schülerinnen und Schülern übernimmt. Das eröffnet den Schülerinnen und Schülern auch Chancen, selbstorganisierter und selbstregulierter zu lernen, das bedeutet, Lehrkräfte können sie im eigenen Tempo arbeiten lassen und sie beim kooperativen Arbeiten unterstützen.
Redaktion: Wo sehen Sie die größten Risiken von Algorithmen im Unterricht?
Wolter: Das größte Risiko liegt aus meiner Sicht darin, dass Algorithmen trainiert werden müssen. Die Informationen, die ihnen gefüttert werden, stammen von Menschen, das heißt, sie können vorurteilsbehaftet sein. Wenn ich etwa in meinen Trainingsdaten Jungen und Mädchen unterschiedlich beurteile, dann kann es sein, dass auch am Ende das maschinell lernende System Jungen und Mädchen verschieden bewertet. Ein weiteres Beispiel wäre, wie ein Programm Feedback formuliert. Wenn ich dem Algorithmus demotivierende, nicht besonders konstruktive oder wenig hilfreiche Antworten einspeise, gibt es diese dann eben auch wieder aus. Das System ist also immer nur so gut wie die Informationen, die wir hineingeben.
Das richtige Training, der richtige Input für den Algorithmus ist also sicherlich die größte Schwierigkeit: die Überlegung, auf welcher Basis von Ergebnissen und Informationen wir den Schülerinnen und Schülern welches Feedback geben. Da steckt eine Vorauswahl drin, eine Menge individueller Entscheidungen, mit der wir als Menschen den Algorithmus formen. Im besten Falle basiert dieser Input auf evidenzbasierter Forschung über wirksames Feedback.
„Beim Einsatz von digitalen Lernformen im Unterricht geht es meiner Meinung nach immer darum, wie und in welchem Umfang und zu welchem Zweck diese eingesetzt werden. Und das muss vor allem die Lehrkraft kontrollieren.“
Prof. Dr. Ilka Wolter
Redaktion: Was müssen Lehrkräfte mitbringen, um Algorithmen im Unterricht gewinnbringend einsetzen zu können?
Wolter: Wenn ich als Lehrkraft Algorithmen einsetze, muss ich sie nicht programmieren, aber logisch durchdringen können. Ich muss wissen: Wenn ich dem Algorithmus ein Feedback aufgrund einer bestimmten Information beibringe, benachteilige ich eventuell gewisse Gruppen von Schülerinnen und Schülern. Oder wenn ich ein Feedback nur bei Verhaltensweise x auslöse, tritt dieses Ereignis vielleicht so selten auf, dass die Kinder gar kein Feedback bekommen. Auch die Bewertung und Einschätzung der Zuverlässigkeit von Quellen und der Datengrundlage der Programme bekommt mit Algorithmen noch einmal zusätzliches Gewicht. Die vielen Anbieter entsprechender Lernsoftware müssen kritisch auf ihre Glaubwürdigkeit und Qualität ihrer Programme geprüft werden. Diese Kompetenz muss unter anderem bei Lehrkräften gefördert und eingefordert werden.
Redaktion: Wie verändert sich die Rolle von Lehrkräften durch algorithmenbasiertes Feedback in der Schule? Werden diese durch die zunehmende KI auch zunehmend überflüssig?
Wolter: Nein, Lehrkräfte werden sicherlich nicht überflüssig. Algorithmenbasierte Programme können ihnen vielmehr viel Vorarbeit abnehmen, weil sie Informationen deutlich schneller verarbeiten können. Wenn Kinder zum Beispiel Essays schreiben und diese auf Satzbau oder Anschlussfehler geprüft werden sollen, kann eine entsprechend trainierte KI natürlich wesentlich schneller durch die Texte gehen und entsprechende Rückmeldungen geben. Aufgaben der Lehrkraft ist es dann wiederum, dieses Feedback zu prüfen, zu moderieren, im Zweifel auch zu korrigieren. Und ganz wichtig: den Schülerinnen und Schülern bei Problemen zu helfen, bei Bedarf, erklärend zur Seite zu stehen und weitere Lernanregungen und Motivation zu geben. So unterrichtet sie dann nicht nur die Kinder, sondern ein Stück weit auch die KI, die durch das Feedback der Lehrkräfte wiederum selbst besser wird in ihren Rückmeldungen. Grundsätzlich denke ich, dass wir in Deutschland aufpassen müssen, dass wir keine Chancen in der Entwicklung von Unterricht verpassen, weil wir zu sehr im Entweder-oder denken und befürchten, dass das Neue das Alte verdrängt. Beim Einsatz von digitalen Lernformen im Unterricht geht es meiner Meinung nach immer darum, wie und in welchem Umfang und zu welchem Zweck diese eingesetzt werden. Und das muss vor allem die Lehrkraft kontrollieren.
Redaktion: Worauf sollten Lehrkräfte achten, wenn sie algorithmenbasiertes Feedback im Unterricht einsetzen wollen?
Wolter: Ein erster wichtiger Schritt ist sicherlich, sich vertraut zu machen mit dem Konzept von Algorithmen und zu erkennen, wo wir im Alltag bereits überall Algorithmen antreffen und mit ihnen arbeiten. Beim Einsatz dieser Algorithmen im Unterricht, etwa in Form von Lernsoftware, ist es dann grundlegend, sich genau anzuschauen, auf welchen Informationen die Programme aufbauen, wie sie entwickelt worden sind, auf welchen Daten und welchen Konzepten sie basieren. Es ist – wie bei anderen Lehrmaterialien auch – eine gewisse Herausforderung, diese Qualität richtig einzuschätzen. Wenn man sich damit aber auseinandergesetzt hat, kann algorithmenbasiertes Feedback eine tolle Ergänzung und ein gutes Unterstützungstool für Lehrkräfte sein.
Redaktion: Frau Professorin Wolter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Ilka Wolter leitet am Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) die Abteilung „Kompetenzen, Persönlichkeit, Lernumwelten“ und ist Professorin für Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Entwicklung und Lernen an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Die promovierte Psychologin forscht zu den Themen Selbstkonzept und schulische Leistung, Geschlechterstereotype und Identitätsaspekte, Kompetenzentwicklung, geschlechtstypisierte Bildungsumwelten sowie Lesekompetenz und Textverstehen multipler Dokumente.