Neuer Pisa-Schock: „In Deutschland sind die Leistungseinbußen überdurchschnittlich groß“
Sinkende Kompetenzen, einbrechende Motivation: Studienleiterin Prof. Doris Lewalter erläutert im Interview die aktuellen Pisa-Ergebnisse
Mit den aktuellen Pisa-Ergebnissen erfasst Deutschland ein neuer Bildungsschock. Prof. Doris Lewalter, Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien und Pisa-Studienleiterin schlüsselt im Interview die Details der Pisa-Ergebnisse auf.
Redaktion: Frau Professorin Lewalter, was sticht bei den Ergebnissen der neuen Pisa-Studie besonders heraus?
Prof. Dr. Doris Lewalter: Die Ergebnisse der Pisa-Studie 2022 zeigen, dass die mittleren Kompetenzen fünfzehnjähriger Schülerinnen und Schüler in Deutschland in allen drei Kernbereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen im Vergleich zu Pisa 2018 deutlich gesunken sind. Die Gruppen der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler sind dagegen in Deutschland im Vergleich zu Pisa 2018 in allen drei Bereichen signifikant gewachsen. Leistungsschwache Jugendliche, deren Kompetenzen sich unter Kompetenzstufe II befinden, sind nicht ausreichend auf eine erfolgreiche Teilhabe an der modernen Gesellschaft sowie auf die nächsten Schritte ihres Bildungswegs vorbereitet. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sie ohne zusätzliche Förderung weder den Anforderungen weiterführender Schulen noch denen der beruflichen Ausbildung gewachsen. In Mathematik liegt ihr Anteil bei 30 Prozent, für Lesen bei 26 Prozent und für die naturwissenschaftlichen Kompetenzen bei 23 Prozent. Im nicht gymnasialen Bereich, also zum Beispiel in Haupt- oder Realschulen sind diese Anteile deutlich höher als die genannten Durchschnittswerte. Der Anteil Leistungsschwacher steigt aber auch an den Gymnasien. Im gleichen Zeitraum sind zudem die Gruppen leistungsstarker Schülerinnen und Schüler in der mathematischen Kompetenz und in der Lesekompetenz in Deutschland signifikant kleiner geworden. In Mathematik liegt der Anteil bei 9 Prozent, in Lesen bei 8 Prozent. Für die naturwissenschaftliche Kompetenz blieb der Anteil leistungsstarker Jugendlicher vergleichbar groß und liegt bei 10 Prozent. Diese Befunde weisen auf einen erheblichen Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern auf allen Leistungsniveaus hin.
„Nur noch ein geringer Teil der Schülerinnen und Schüler erkennt den Wert der Mathematik für den Beruf und den weiteren Lebensweg.“
Prof. Dr. Doris Lewalter
Redaktion: Sie haben auch die Motivation der Schülerinnen und Schüler untersucht. Was haben Sie diesbezüglich herausgefunden?
Lewalter: Bezogen auf die Motivation berichten 38 Prozent der Jugendlichen in Deutschland, Mathematik sei ihr Lieblingsfach, was im Durchschnitt der OECD-Staaten liegt. Freude und Interesse an Mathematik sowie die instrumentelle Motivation der Schülerinnen und Schüler haben sich zwischen 2003 und 2012 kaum verändert, sind jedoch in den letzten zehn Jahren signifikant gesunken. Das heißt, dass die 15-Jährigen heute zum einen weniger Freude und Interesse an dem Fach haben und zum anderen weniger Nutzen darin sehen, Mathematik zu lernen. Ein Beispiel für eine Aussage im Fragebogen: „Ich gebe mir in Mathematik Mühe, weil es mir in meinem späteren Job weiterhelfen wird“. Nur noch ein geringer Teil der Schülerinnen und Schüler erkennt den Wert der Mathematik für den Beruf und den weiteren Lebensweg.
Redaktion: Was sagen die neuen Pisa-Ergebnisse über die Nutzung digitaler Endgeräte?
Lewalter: Bezüglich digitaler Geräte zeigt Pisa 2022, dass sich die Ausstattung der Schulen, insbesondere mit Tablets für Schülerinnen und Schüler und internetfähigen PCs für Lehrkräfte seit 2018 deutlich verbessert hat. Dabei werden die technischen und pädagogischen Kompetenzen der Lehrkräfte für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht von den Schulleitungen als sehr hoch eingeschätzt, aber die Zeitkontingente für die entsprechende Unterrichtsvorbereitung und das Personal für den technischen Support liegen an deutschen Schulen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Unterm Strich wird das potenzielle Angebot an vielfältigen digitalisierungsbasierten Lernformen im Unterricht kaum ausgeschöpft. In ihrer Freizeit nutzen die Fünfzehnjährigen digitale Medien zum Teil in sehr hohem Umfang auch für lernbezogene Aktivitäten. Im Vergleich zum OECD-Durchschnitt schätzen die Schülerinnen und Schüler ihre Selbstwirksamkeit im Umgang mit digitalen Medien jedoch deutlich niedriger und ihre Motivation, mehr über digitale Medien lernen zu wollen, signifikant höher ein.
Redaktion: Welche weiteren Aspekte der aktuellen Pisa-Ergebnisse halten Sie für besonders bemerkenswert?
Lewalter: Weitere relevante Ergebnisse der aktuellen Studie sind zum einen, dass viele Schülerinnen und Schüler in Deutschland im Mathematikunterricht Müdigkeit und Langeweile empfinden. Zudem hat die Ängstlichkeit gegenüber dem Fach Mathematik zugenommen. Außerdem zeigt sich, dass klassische Mathematikaufgaben wie zum Beispiel schlichte Berechnungen und einfache Anwendungsaufgaben immer noch eine wesentliche Rolle im Mathematikunterricht in Deutschland spielen. Im Unterricht werden dadurch insbesondere Kompetenzen adressiert, die eine fachliche Grundlage bilden. Allerdings fördern diese Aufgaben primär ein eher enges fachliches Wissen sowie abgegrenzte Routinen und sind kaum motivationsförderlich und flexibel gestaltet. Weitere Befunde deuten darauf hin, dass der Unterricht aus Sicht der Schülerinnen und Schüler weit weniger an die Lebenswelten der Jugendlichen anknüpft, als dies von den Lehrkräften intendiert ist. Zudem fühlen sich Fünfzehnjährige in Deutschland im Vergleich zu 2012 weniger durch ihre Mathematiklehrkraft unterstützt und weniger als dies im OECD-Durchschnitt der Fall ist.
„Wir können davon ausgehen, dass die Schulschließungen negative Effekte hatten.“
Prof. Dr. Doris Lewalter
Redaktion: Welche Auswirkungen der Corona-Pandemie sehen Sie, wenn Sie die aktuellen Ergebnisse mit Pisa 2018 vergleichen?
Lewalter: Die Schulzeit vor der Pisa-Studie 2022 war durch die Corona-Pandemie und die Maßnahmen zu deren Eindämmung geprägt. Dies spielt sicherlich eine Rolle für die Abnahme der grundlegenden Kompetenzen der Jugendlichen in Deutschland seit Pisa 2018. Allerdings setzt sich auch ein deskriptiver Abwärtstrend fort, der sich schon in den letzten Pisa-Runden, vor allem für Mathematik und die naturwissenschaftliche Kompetenz andeutete. Demnach hat die Pandemie eher als Verstärker bereits bestehender Probleme gewirkt. Wir können davon ausgehen, dass die Schulschließungen negative Effekte hatten. Während der Corona-Pandemie waren die Schulen in Deutschland im Vergleich zum OECD-Durchschnitt weniger gut auf einen digitalgestützten Distanzunterricht vorbereitet, auch wenn die Schulleitungen in Deutschland Maßnahmen ergriffen haben, um Schülerinnen und Schülern die notwendige Infrastruktur und Lernmaterialien bereitzustellen. Der Distanzunterricht in Deutschland erfolgte im Vergleich zum OECD-Durchschnitt seltener mithilfe digitaler Geräte und häufiger mithilfe versendeter Materialien zum selbstständigen Lernen. Angesichts der hohen Anteile leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler wiegt es besonders schwer, dass weniger als die Hälfte dieser Gruppe von Schülerinnen und Schüler nach eigenen Angaben an Förderangeboten teilgenommen hat. Allerdings kann man die Leistungsrückgänge in den untersuchten OECD-Staaten nicht generell an der Dauer der Schulschließungen festmachen. Wir finden bei den OECD-Staaten keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Dauer der Schulschließung und der Kompetenzabnahme zwischen 2022 und 2018. Und einzelne Staaten weisen zum Teil erhebliche Unterschiede in der Kompetenzentwicklung in den drei Bereichen auf. Das sind zwei Indizien, die dafür sprechen, dass die geringeren Kompetenzen in Deutschland nicht allein ein Pandemie-Effekt sind.
Redaktion: Wo steht Deutschland nach der aktuellen Studie im Vergleich zum OECD-Durchschnitt?
Lewalter: Während die mittleren Kompetenzen der Jugendlichen in Pisa 2018 in allen drei Bereichen noch signifikant über den jeweiligen OECD-Mittelwerten lagen, ist dies in Pisa 2022 nur noch für die mittlere naturwissenschaftliche Kompetenz der Fall. Die Kompetenzen in Mathematik und im Lesen unterscheiden sich dagegen jetzt nicht mehr signifikant vom OECD-Durchschnitt. In vielen OECD-Staaten haben sich die durchschnittlichen Mathematik- und Lesekompetenzen der Jugendlichen im Vergleich zur vorherigen Pisa-Studie von 2018 verringert. Dies gilt in geringerem Maße auch für die naturwissenschaftliche Kompetenz. Im OECD-Durchschnitt gab es substanzielle Leistungseinbußen für Mathematik und Lesen, aber nicht für die naturwissenschaftliche Kompetenz. In Deutschland sind die Leistungseinbußen in allen drei Bereichen überdurchschnittlich groß. Bezüglich der Gründe für die geringeren Kompetenzen der Fünfzehnjährigen in Pisa 2022 im Vergleich zu Pisa 2018 ist zunächst wichtig zu beachten, dass die Pisa-Studien vor allem die Diagnose liefern, aber nicht so angelegt sind, dass sie alle Ursachen untersuchen können.
„Die Pisa-Studien zeigen, dass die Jugendlichen in den letzten Jahren weniger Freude an Mathematik und Lesen haben als die Jugendlichen vor zehn oder fünfzehn Jahren.“
Prof. Dr. Doris Lewalter
Wir können ableiten, dass mehrere Faktoren zusammenkommen: Die Corona-Pandemie hat sicherlich einen Einfluss auf die Ergebnisse. Die deutschen Schulen waren nicht gut auf den Distanzunterricht vorbereitet. Aber das erklärt nur einen Teil der Abnahmen. Manche guten Förderprogramme, mit denen in den Nullerjahren die Kompetenzen der Jugendlichen gesteigert werden konnten, sind ausgelaufen und nicht weiterentwickelt worden. Die Schülerschaft ist heute noch heterogener als vor zehn oder fünfzehn Jahren. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungshintergrund ist weiter gestiegen. Das betrifft vor allem die Bildungssprache Deutsch als Grundvoraussetzung für das Lernen.
Und Schule muss sich stetig weiterentwickeln. Wir können nicht sagen „Jetzt haben wir guten Unterricht und so lassen wir ihn.“ Die Pisa-Studien zeigen, dass die Jugendlichen in den letzten Jahren weniger Freude an Mathematik und Lesen haben als die Jugendlichen vor zehn oder fünfzehn Jahren. Das deutet darauf hin, dass der Unterricht heute die Jugendlichen weniger gut erreicht und unzureichend an ihre Lebenswelten anknüpft.
Redaktion: Sie haben für Deutschland erneut nachgewiesen, dass soziale Herkunft und Leistung stark zusammenhängen. Woran liegt das und wo muss das deutsche Bildungssystem hier nachbessern?
Lewalter: Im internationalen Vergleich ist sowohl der Effekt des Zuwanderungshintergrundes als auch der sozialen Herkunft in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Die mathematische Kompetenz der Schülerinnen und Schüler hängt in hohem Maße mit dem sozioökonomischen beruflichen Status der Eltern zusammen. Eltern von Jugendlichen mit einem Zuwanderungshintergrund weisen in Deutschland einen niedrigeren sozioökonomischen beruflichen Status auf als Eltern von Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund. Es zeigt sich, dass die geringeren Leistungen der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund in erheblichem Maße durch die zu Hause gesprochene Sprache sowie durch die soziale Herkunft vermittelt werden. In den Familien der Jugendlichen, die selbst zugewandert sind, wird heute zu Hause seltener Deutsch gesprochen als in den entsprechenden Familien 2012.
Insgesamt besteht weiterhin hoher Handlungsbedarf für das deutsche Schulsystem, damit auch leistungsschwache Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit über diejenigen Kompetenzen verfügen, welche sie für einen gelungenen Übergang in das Berufsleben benötigen – und dies unabhängig von ihrer sozialen oder zuwanderungsbezogenen Herkunft. Die Basis für jeden schulischen Erfolg ist die Beherrschung der Bildungssprache Deutsch. Deshalb ist die Sprach- und Leseförderung von grundlegender Bedeutung. Wichtig ist dabei eine diagnosebasierte systematische Förderung von der Vorschule bis zum Sekundarbereich. Zudem ist eine bedarfsorientierte Ressourcenzuwendung sinnvoll, um die personelle Ausstattung von Schulen zu verbessern, die viele Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und mit Zuwanderungshintergrund unterrichten.
Allerdings muss man beachten: Die soziale Herkunft und der Zuwanderungshintergrund erklären die Gesamtergebnisse nur zum Teil. Die mathematischen Kompetenzen der Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sind im Vergleich zu 2012 ebenfalls geringer geworden – sogar deutlicher als bei den Jugendlichen, deren Eltern zugewandert sind, die aber selbst in Deutschland geboren wurden.
Redaktion: Was kann das Fachpersonal aus der Praxis aus der PISA-Studie mitnehmen, wenn es in diesen Tagen von den Ergebnissen erfährt? Wo kann auf Ebene von Schulverwaltung, Schulleitung und Lehrkräften angesetzt werden, um zu besseren Leistungen im Bildungssystem beizutragen?
Lewalter: Aus der Bildungsforschung haben wir viele Erkenntnisse, wie erfolgreicher Unterricht funktioniert. So gibt es beispielsweise das Framework der drei Basisdimensionen, dass die hohe Relevanz von Klassenführung, konstruktiver Unterstützung und kognitiver Aktivierung betont. Laut diesem Framework stellt die Klassenführung eine wichtige Komponente für erfolgreichen Unterricht dar. Hierzu gehört beispielsweise Disziplin im Unterricht und dazu zeigen die Ergebnisse von Pisa 2022, dass hier noch Verbesserungspotenzial in Deutschland besteht, denn die von den Schülerinnen und Schülern in Deutschland berichtete Disziplin im Klassenzimmer liegt leicht signifikant unter dem OECD-Durchschnitt. Es geht hier konkret darum, dass eine Lehrkraft zum Beispiel nicht lange warten muss, bis die Schülerinnen und Schüler ruhig werden.
Zudem spielt die konstruktive Unterstützung, also die sozialen Interaktionen und Beziehungen zwischen Lehrkraft und Lernenden im Unterricht, eine wichtige Rolle. Dies ist auch insbesondere für die Motivation und das Interesse der Schülerinnen und Schüler wichtig. Hier zeigen die Ergebnisse von Pisa 2022, dass die von den Schülerinnen und Schülern in Deutschland berichtete Unterstützung durch die Lehrkraft signifikant unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Es geht dabei beispielsweise konkret darum, dass Lehrkräfte im Unterricht etwas so lange erklären, bis es die Schülerinnen und Schüler verstanden haben.
Außerdem spielt die sogenannte kognitive Aktivierung eine große Rolle. Hierbei geht es um ein tieferes Verständnis von Inhalten und um das Herstellen von Verbindungen zwischen Fakten, Prozeduren und Ideen. Insbesondere im Mathematikunterricht sollten Aufgaben mit Problemstellungen eingesetzt werden, die analytisches, evaluatives oder kreatives Denken sowie explizite Verknüpfungen erfordern. In PISA werden zwei Aspekte zur kognitiven Aktivierung erfasst. Während Jugendliche in Deutschland häufiger berichten, zum Argumentieren aufgefordert zu werden als dies im OECD-Durchschnitt der Fall ist, ermutigen Lehrkräfte aus Sicht der Fünfzehnjährigen in Deutschland seltener zum mathematischen Denken als dies von den Jugendlichen im OECD-Durchschnitt berichtet wird. Der Mathematikunterricht in Deutschland ist somit stärker problemorientiert. Ein flexibles Denken, also der Transfer von Wissen in neue Situationen, scheint jedoch bisher seltener beziehungsweise nicht Teil des aktuellen Unterrichts zu sein. Die kognitive Aktivierung, insbesondere hinsichtlich einer Ermutigung von flexiblem Denken und eines Transfers in neue Situationen, sollte im Unterricht in Deutschland also noch stärker eingesetzt werden.
Redaktion: Frau Professorin Lewalter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Doris Lewalter ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik,Vorstandsvorsitzende des Zentrums für internationale Bildungsvergleichsstudien und National Project Manager der aktuellen Pisa-Studie. Ihre Forschungsinteressen liegen in derMotivationsentwicklung, Lehr- und Lernprozesse in formellen und informellen Kontexten sowie dem Lehren und Lernen mit digitalen Medien und der Lehrerbildung.