PISA – was ist jetzt zu tun?
Konkrete Maßnahmen, um dem Abwärtstrend entgegenzuwirken
Deutschland erlebt mit dem erneuten Pisa-Schock rund 20 Jahre nach der Veröffentlichung von Pisa-2000 eine Art Déjà-Vu. Prof. Ulrich Trautwein, Prof. Felicitas Thiel und Prof. Thomas Riecke-Baulecke analysieren die Situation und machen Vorschläge, wie nun gehandelt werden muss.
Die Pisa-Ergebnisse für die Schülerschaft in Deutschland sind so schlecht wie nie zuvor. Das ist bestürzend, wenn man sich vergegenwärtigt, was fehlende Basiskompetenzen für die gesellschaftliche Teilhabe der betroffenen Jugendlichen jeweils individuell bedeutet und welche Hypothek auf einer Gesellschaft lastet, die das Potenzial der nächsten Generation verspielt. Gleichzeitig ist der neuerliche Absturz nicht unerwartet, wenn genauer auf die Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte geblickt wird. Was jetzt zu tun ist: erstens eine schonungslose Beschreibung und Analyse der tiefgreifenden Herausforderungen; zweitens der unverzügliche, deutschlandweite Einstieg in diejenigen bildungspolitischen Maßnahmen, die langfristig die größten und nachhaltigsten Verbesserungen versprechen; und drittens die Neujustierung der Rolle von Bildung in einer sich dynamisch verändernden Gesellschaft, so dass es auch langfristig genügend Rückenwind und Rückhalt für die notwendige Weiterentwicklung gibt.
1. Was die Ergebnisse zeigen und worin die Ursachen liegen:
Die Pisa-Auswertungen zeigen, dass sich Deutschland bei zentralen Kennwerten substanziell verschlechtert hat und grundsätzlich in Bereichen liegt, die nicht einmal im Ansatz dem Anspruch einer „Bildungsrepublik“ gerecht werden. Das betrifft erstens die erreichten mittleren Kompetenzstände im Lesen, in Mathematik und der Naturwissenschaft, zweitens die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards verpassen und drittens die starke Kopplung von sozialem Hintergrund und Kompetenzerwerb.
Zwar fehlt es an einigen Stellen noch immer an Studien, die es erlauben, Ursachen als kausal gesichert zu identifizieren, aber es spricht vieles dafür, dass mehrere Faktoren zu dem jüngsten, besorgniserregenden Negativtrend in der Entwicklung der Schülerleistungen beigetragen haben. Die drei vielleicht wichtigsten Faktoren sind:
- Die veränderte Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler durch Zuwanderung und der dadurch entstehende besondere Förderbedarf, der sich überdeutlich bei sprachlichen Anforderungen zeigt, aber über sprachliche Kompetenzen hinausreicht und auch Fragen der historisch-politischen Grundbildung aufwirft.
- Die langen Schulschließungen während der Corona-Pandemie, die nicht nur mit einer starken Verringerung der Lernzeit einhergingen, sondern auch die sozial-emotionale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt haben.
- Der seit mehr als zehn Jahren anhaltende Lehrkräftemangel und die zunehmende Sicherung der Unterrichtsversorgung durch häufig nicht ausreichend qualifizierte Seiteneinsteiger sowie Vertretungslehrkräfte, inzwischen zunehmend auch Studierende – ein Muster, das überall in Deutschland zu finden ist, in manchen Bundesländern aber besonders dramatische Formen angenommen hat.
Diese Herausforderungen schlugen stärker ins Gewicht als eine Reihe von positiven Entwicklungen, wie beispielsweise die Überwindung ideologischer Gegensätze bei Themen wie übergreifenden Unterrichtskonzepten und Schulstrukturen zugunsten einer stärkeren Orientierung an der konkreten Entwicklung von Unterrichtsqualität; sie haben auch die positiven Effekte der engagierten und qualifizierten Arbeit, die an vielen Schulen geleistet wurde, deutlich gebremst.
2. Was jetzt zu tun ist:
Wenn die Bildungspolitik den Negativtrend überwinden will, darf sie sich nicht an den jetzt vielfach artikulierten Partikularinteressen orientieren. Sie benötigt vielmehr einen Kompass. Diesen Kompass gibt es – er nennt sich konsequente, an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Qualitätsentwicklung.
Welche konkreten Maßnahmen sind vordringlich? Wir möchten sieben konkrete Vorschläge nennen:
- Flächendeckende Einführung einer Sprachstands- und Entwicklungsdiagnostik im Alter von vier Jahren, die im Fall der Feststellung eines Förderbedarfs in eine verbindliche Förderung derjenigen Kompetenzen mündet, die eine erfolgreiche Schulkarriere begünstigen.
- Umsetzung einer kohärenten Strategie zur Implementation wirkungsgeprüfter diagnose- und materialbasierter Konzepte zur Förderung basaler Kompetenzen in Grundschulen sowie Sekundarschulen mit besonderem Bedarf, die auch verpflichtende Lesebänder umfasst . Dazu müssen die unterschiedlichen Programme in Bund und Ländern dringend koordiniert werden.
- Ehrliche Bestandsaufnahme zu weiteren schulischen Herausforderungen inklusivezu Wohlbefinden und Resilienz der Schülerschaft, Demokratiefähigkeit sowie Begabtenförderung sowie eine gezielte Entwicklung und Evaluation von Präventions- und Interventionskonzepten – im Wissen darum, dass eine effektive Vermittlung von Basiskompetenzen auch in diesen Handlungsfeldern die zentrale Grundlage darstellt.
- Flächendeckende Nachqualifizierung von Seiteneinsteigern und Seiteneinsteigerinnen im Lehramt durch evidenzbasierte Fortbildungsmodule, Beschränkung einer Tätigkeit als Vertretungslehrkraft auf den Einsatz in Teams mit erfahrenen Lehrkräften sowie Ausbau eines wissenschaftsbasierten Quereinstiegs ins Lehramt.
- Konsequente Weiterentwicklung des pädagogischen Personals von Schulen zu gut ausgebildeten, multiprofessionellen Teams, die nach dem Response to Intervention-Ansatz konsequent den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, kriterial definierte Standards zu erreichen. Außerdem muss das pädagogische Personal dafür möglichst weitgehend von administrativen Aufgaben entlastet werden.
- Entwicklung und Implementation einer systematischen Strategie der Elternarbeit, die ein breites Spektrum umfasst: angefangen bei kontinuierlichen Lernstandsinformationen über das Schließen von Bildungs- und Erziehungspartnerschaften bis hin zu individualisierten Hilfen zur Erziehung.
- Systematische Nutzung von Daten auf Ebene der Schule sowie der Schulaufsicht, um einen Bedarf an Personal- und Schulentwicklung frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Die datengestützte Identifikation von Entwicklungsbedarf muss durch verbindliche Zielvereinbarungen oder Schulverträge sowie ein kontinuierliches Monitoring der umgesetzten Maßnahmen flankiert werden.
3. Wie ein erneutes Déjà-vu zu vermeiden ist:
Die Umsetzung der Empfehlungen erfordert eine Kraftanstrengung unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure.
Die Politik muss Bildung zur Chefsache machen. Angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der übereinstimmend durch alle Schulleistungsstudien diagnostizierten Bildungskrise, muss Bildung einen höheren Stellenwert auf der politischen Agenda erhalten.
Was die Wissenschaft betrifft, ist eine Schärfung der Werkzeuge empirischer Forschung erforderlich, um die Gefahr zu verringern, dass didaktische Sackgassen mit innovativer Unterrichtsentwicklung verwechselt werden.
Bildungsverwaltung und die Schulaufsicht sind einerseits bei der Implementation von Reformmaßnahmen und Förderprogrammen gefragt. Hier muss eine systematische Evaluation stattfinden und bei ausbleibendem Erfolg muss umgesteuert werden. Anderseits muss gelten, dass Qualitätsverletzungen in einzelnen Schulen nicht ignoriert werden. In einer Kultur des Hinschauens muss die Schulaufsicht Unterstützung leisten, aber auch erhöhte Anstrengung vor Ort einfordern können.
Der neuerliche Pisa-Schock wird aber nur dann eine Trendumkehr bewirken, wenn alle Akteurinnen und Akteure, Politik, Wissenschaft, Schulaufsicht, Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler, bereit sind, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen. Für eine Gesellschaft, die sich in weiten Teilen als „Berechtigungsgesellschaft“ (Jürgen Baumert) zu verstehen scheint, ist eine stärkere Orientierung an Leistung vielleicht die größte Herausforderung.