„Pisa ist immer noch die wichtigste Bildungsstudie”

Prof. Olaf Köller spricht im Interview über die historische und heutige Relevanz von Pisa – und erklärt, was die Praxis aus der Studie lernen kann

Alle drei Jahre wieder rüttelt die Pisa-Studie das deutsche Bildungssystem auf. Wo die Stärken und Schwächen der Studie liegen und ob sie für die Praxis überhaupt relevant ist,  darüber spricht Professor Olaf Köller, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel und Co-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission im Interview.

Redaktion: Herr Köller, die Ergebnisse der neuesten Pisa-Studie sind erschienen. Regelmäßig wird im Kontext der Untersuchung von „Pisa-Schock” gesprochen – Ihrer Meinung nach eine angemessene Bezeichnung?

Prof. Dr. Olaf Köller: Wir haben natürlich mit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 ein gewisses Trauma in Deutschland erlebt. Man war lange Zeit davon überzeugt, dass das deutsche Bildungssystem erfolgreich und seine Leistungsfähigkeit sehr hoch sei und dass man die jungen Leute sehr gut auf ihre individuelle Zukunft vorbereite. Daher waren wir nach den ersten Pisa-Ergebnissen sehr irritiert, weil wir im internationalen Vergleich in allen drei getesteten Bereichen – Lesen, Naturwissenschaften und Mathematik – unter dem OECD-Mittelwert lagen. Zu den unterdurchschnittlichen Ergebnissen kamen Probleme wie die sozialen und migrationsbedingten Ungleichheiten oder die vielen verzögerten Schulkarrieren, also die sitzengebliebenen Kinder. Das Jahr 2000 war meiner Einschätzung nach daher der größte Schock. Danach haben Bund und Länder viele Maßnahmen auf den Weg gebracht, etwa das Ganztagsprogramm, die stärkere Förderung in der Kita, die Einführung von Bildungsmonitoring und Bildungsstandards, kompetenzorientierten Unterricht und vieles mehr. Man hat so eine Aufgabenkultur in die Fächer gebracht, die auch mehr dem Geist von Pisa entsprach. Die Aufregung hat sich dann entsprechend gelegt, weil die Ergebnisse stetig besser wurden.

Redaktion: Doch seit einer Weile sind die Ergebnisse nun wieder beunruhigender.

Köller: Tatsächlich kippte diese Entwicklung 2015 wieder ins Negative. Wenn sich die seither auftretenden Trends fortsetzen, werden wir spätestens in 2025 den OECD-Mittelwert wieder unterschreiten. Hinzu kommt in 2022 natürlich auch die erste Generation der zugewanderten Jugendlichen von 2015 dazu, das nächste Mal in 2025 wird man die Generation der Geflüchteten aus der Ukraine in den Ergebnissen sehen können. Gelingt es unserem Bildungssystem, diese jungen Leute so zu beschulen, dass sie am Ende der Sekundarstufe I die anwendungsbezogenen Aufgaben eines Pisa-Tests erfolgreich lösen können? Das ist die große Frage und Sorge. Insofern kann man schon sagen, dass Pisa erneut die Leistungsfähigkeit unseres Systems infrage stellt, zumal viele der alten Probleme geblieben sind: große Risikogruppen, große soziale, migrationsbedingte Ungleichheiten. Man kann daher immer wieder von einem Pisa-Schock sprechen, weil die Studie die Bevölkerung wachrüttelt und wichtige Problemlagen sichtbar macht.

Redaktion: Der inzwischen emeritierte Professor Heiner Barz von der Universität Düsseldorf hat 2018 beim Erscheinen der letzten Pisa-Studie angemahnt, gewisse Elemente der Pisa-Studie seien mit Vorsicht zu genießen, ihre Aussagekraft sei nicht immer so eindeutig, die Ergebnisse würden „überinterpretiert”. Stimmen Sie dem zu?

Köller: Man muss natürlich bei der Interpretation akzeptieren beziehungsweise erkennen, was bei PISA unter Kompetenzen verstanden wird. Im Grundbildungskonzept der OECD und damit auch bei PISA geht es ja sehr stark um die Frage: Sind Schülerinnen und Schüler in der Lage, mit dem in der Schule Gelernten Probleme zu lösen, die sich in ihrem Alltag stellen? Bereiten die Schulen Schülerinnen und Schüler gut auf ihre Lebenswirklichkeit vor? Es wird also nicht einfach curriculares Wissen abgefragt, das so garantiert im Unterricht der Schülerinnen und Schüler Thema war. Die Pisa-Studie bildet damit nicht im engeren Sinne die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems ab, zumindest nicht, wenn man danach fragt, ob das gelernt wurde, was die Lehrpläne vorgeben. Wenn man aber die Position vertritt, dass es zum Auftrag von Schule gehört, junge Menschen auf die Welt außerhalb der Schulen vorzubereiten – und ich würde sagen, das gehört dazu – dann würde ich mir die Ergebnisse schon sehr genau anschauen und auch Rückschlüsse auf den Kontext Schule ziehen. Hinzu kommt gerade im Bereich Mathematik, dass es doch eine recht große thematische Überlappung zwischen Pisa und dem gibt, was auch in den deutschen Bildungsstandards für das Fach Mathematik steht: die großen Themenbereiche Geometrie, funktionaler Zusammenhang, Daten und Wahrscheinlichkeit, werden abgefragt, es geht um mathematisches Modellieren, Argumentieren, Problemlösen und Bewerten.

„Die Rahmenkonzeption für Pisa – wenn ich mir zum Beispiel das neue Framework für Mathematik angucke – ist wesentlich moderner als in vielen anderen Studien.“

Prof. Dr. Olaf Köller

Redaktion: Wie bedeutend ist Pisa im Vergleich zu anderen Studien heute? Wie grenzt sie sich zu anderen Untersuchungen wie dem IQB-Bildungstrend ab?

Köller: Mein Eindruck ist, dass in vielen Ländern dieser Welt Pisa die wichtigste Bildungsstudie ist. An Pisa 2022 haben 83 Staaten  beziehungsweise Wirtschaftsregionen teilgenommen. Wegen dieses spannenden Blicks über den Tellerrand kommt Pisa in der Öffentlichkeit eine höhere Bedeutung zu als etwa dem IQB-Bildungstrend. Gleichzeitig muss man natürlich sagen, dass gerade der IQB-Bildungstrend für ein föderales System wie die Bundesrepublik Deutschland viel aussagekräftiger den einzelnen Ländern Rückmeldung über ihre Leistungsfähigkeit gibt. Pisa zeichnet dagegen ein bundesweites Bild, aus dem für das einzelne Bundesland erst einmal nicht viel folgt, denn die Pisa-Stichprobe bildet mit ihrer nationalen Repräsentativität im Wesentlichen die bevölkerungsstarken Bundesländer ab: Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen. Bundesländer wie Hamburg oder Bremen tauchen nur mit wenigen Schulen auf. Des Weiteren beschränkt sich Pisa beim Fach Deutsch auf den Bereich Lesen, in den Naturwissenschaften nimmt die Studie keine Fächerdifferenzierung vor, da geht der IQB-Bildungstrend weiter. Was die Steuerungsinformationen betrifft, ist der IQB-Bildungstrend daher die bessere Informationsquelle. Der Reiz von Pisa liegt in der internationalen Perspektive, man bekommt den Spiegel vorgehalten, sieht etwa auch, wo unsere deutschsprachigen Nachbarstaaten stehen, schaut auf die skandinavischen Länder, vergleicht, was die asiatischen Länder machen.

Redaktion: Sehen Sie auch Differenzen im Design der Aufgaben zwischen Pisa und anderen Studien?

Köller: Die Rahmenkonzeption für Pisa – wenn ich mir zum Beispiel das neue Framework für Mathematik angucke – ist wesentlich moderner als in vielen anderen Studien. So geht es in den Aufgaben zum Beispiel sehr stark um die Bewertung von statistischen Informationen, also um sogenanntes “statistical reasoning”. Themen wie die Bewertung von Unsicherheit, der Umgang mit Varianz spielen eine Rolle. Hier habe ich den Eindruck, dass uns die OECD oftmals einen Schritt voraus ist, die Organisation denkt stärker darüber nach, wie sich die Welt weiterentwickelt und welche Anforderungen man entsprechend an Schülerinnen und Schüler stellen muss. Man wird jetzt auch sehen, wie sich möglicherweise in Deutschland die Curricula oder die Bildungsstandards in Reaktion auf Pisa weiterentwickeln. Denn im Moment stehen wir zumindest bei den Tests, die im IQB eingesetzt werden, immer noch da, wo wir Mitte der 2000er-Jahre waren.

Redaktion: Die Pisa-Studie hat in diesem Jahr den Schwerpunkt Mathematik. Was bedeutet das konkret? Was läuft bei dieser Studie anders als bei der sonst üblichen Testung der mathematischen Fähigkeiten?

Köller: Von Anfang an war es bei Pisa so, dass der jeweiligen Hauptdomäne, die bei jeder Studie wechselte, eine längere Testzeit und eine höhere Aufgabenzahl eingeräumt wurde, so dass man differenzierte Auswertungen zum jeweiligen Schwerpunkt vornehmen konnte. Auch in der jetzigen Studie konnten die Autoren für den Schwerpunkt Mathematik noch weitere Inhaltsbereiche wie etwa „Unsicherheiten und Daten” oder „Raum und Form” aufspannen, da man genügend Aufgaben für diese einplanen kann. Heute hat sich dieses Prinzip allerdings ein wenig überlebt, da inzwischen computerbasiert getestet wird. Das ermöglicht, adaptiv zu testen und sehr individuell und zeiteffizient Aufgaben zuzuweisen. Das bedeutet, dass das System auf die Antworten der Schülerinnen und Schüler reagiert und etwa einem Schüler, der eine Reihe von Aufgaben falsch beantwortet hat,  dann leichtere zuweist. Das heißt zugleich aber auch, dass die Hauptdomäne zeitlich nicht zwangsläufig so viel länger getestet wird. Der Schwerpunkt der Pisa-Studie zeigt sich heute vielmehr in einer umfassenderen Berichterstattung aus dem jeweiligen Bereich und oftmals einer Überarbeitung des Frameworks der jeweiligen Hauptdomäne. Man fragte  sich also etwa zu Pisa 2022 : Was macht moderne Mathematik heute aus? Welche Anforderungen stellt die Welt heute an die mathematischen Kompetenzen von Jugendlichen? So findet  man in dieser Studie beispielsweise viele Aufgaben, die sich im Bereich Bewertung von statistischen Informationen bewegen, oder auch Simulationsaufgaben, beispielsweise zum Thema Zinsen, Geldanlagen und Sparplänen.

„Um es ganz deutlich zu sagen: Aus dem Abschneiden der etwa 6000 15-Jährigen folgt für die einzelne Schule natürlich erst einmal gar nichts.“

Prof. Dr. Olaf Köller

Redaktion: Was halten Sie für die Stärken der Pisa-Studie? Welche Aspekte sind Ihrer Meinung nach besonders aussagekräftig?

Köller: Eine große Stärke von Pisa ist, dass wir seit mehr als 20 Jahren einen globalen Trend haben, dass wir also auf derselben Skala seit 2000 die drei Domänen abbilden können. So können wir etwa auch sehen, wie sich Reformen auf die Trends – zumindest vermutlich – ausgewirkt haben. Die zweite große Stärke ist die Vergleichbarkeit zwischen Ländern, wenn es um globale Problemstellungen geht, wie dieses Mal der Umgang mit der Migrationswelle von 2015. Wie schneidet die erste Generation der Flüchtlinge in Nachbarländern wie Österreich, der Schweiz oder Frankreich ab? Ein anderer interessanter Fall ist Schweden, wo die Schulen während der Pandemie nicht geschlossen waren, oder Länder, wo die Schulen sehr lange geschlossen waren – welche Auswirkungen hatte das? Hier liefert die Pisa-Studie sehr spannende Einblicke. Erkenntnisse hinsichtlich des deutschen Systems sind dagegen immer ein Stück weit redundant. So bekommen wir die Informationen bezüglich der sozialen und migrationsbedingten Ungleichheit für das deutsche System natürlich im IQB-Bildungstrend genauso. 

Redaktion: Was kann die Praxis von der Pisa-Studie lernen beziehungsweise mitnehmen? 

Köller: Um es ganz deutlich zu sagen: Aus dem Abschneiden der etwa 6000 15-Jährigen folgt für die einzelne Schule natürlich erst einmal gar nichts. Ein interessanter und lohnenswerter Input für die Praxis aus der Pisa-Studie sind aber die Aufgaben. Sowohl im überarbeiteten Bereich Mathematik als auch im Bereich Lesen, wo etwa mit digitalen, nicht linearen Texten gearbeitet wird, gibt es eine Reihe innovativer, moderner Ansätze zu entdecken, die besser einer digitalisierten Lernumgebung entsprechen als vieles, was heute noch in Schulen verwendet wird. Sie können Lehrkräften dabei helfen, den Alltag, wie er sich im Jahr 2023 darstellt, besser in den Unterricht zu bringen.

Redaktion: Herr Professor Köller, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Olaf Köller ist Psychologe und seit 2009 geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel. Zuvor war er Gründungsdirektor des IQB und Professor für Empirische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Bildungsmonitoring, Diagnose schulischer Kompetenzen, individuelle Entwicklungsprozesse unter den institutionellen Rahmenbedingungen von Schule und die Evaluation von Schul- und Unterrichtsentwicklungsprogrammen.