Soziale Ungleichheit an Schulen: „Es müssen bessere Entwicklungsangebote gemacht werden”

Professor Kai Maaz über Ungerechtigkeit und fehlende Kohärenz im deutschen Bildungssystem

Die Pisa-Studie hat es Ende vergangenen Jahres erneut offengelegt: In Deutschland wirken sich die soziale Herkunft und die Umstände, in denen ein Kind aufwächst, stärker auf den Bildungserfolg aus als anderswo. Warum sich dieses Problem hierzulande so schwer lösen lässt und wo man ansetzen muss, das erklärt Professor Kai Maaz, geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, im Interview.

Redaktion: Herr Maaz, die Pisa-Studie hat erneut erhebliche soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem nachgewiesen, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler sind in Deutschland stärker als in anderen Ländern vom Elternhaus abhängig. Wie beurteilen Sie die Ergebnisse?

Prof. Dr. Kai Maaz: Das Ausmaß der in Pisa erneut nachgewiesenen sozialen Ungleichheit hat mich nicht wirklich überrascht. Wir haben – wenn man sich die letzten 20 Jahre nach dem ersten Pisa-Schock 2000 anschaut – in den ersten zehn Jahren positive Trends gesehen, die Leistungen sind besser geworden und auch die Ungleichheitsmaße sind zurückgegangen. Doch in den vergangenen zehn Jahren ist dieser Trend gekippt und wir sehen, dass die Leistungen sukzessive geringer werden und der Zusammenhang zwischen Kompetenzerwerb und sozialer Herkunft wieder stärker geworden ist.

Redaktion: Wieso konnten wir in Deutschland den anfänglich positiven Trend beim Abbau sozialer Ungleichheit nicht verstetigen? Warum verfestigt sich soziale Ungerechtigkeit im Bildungssystem nun wieder?

Maaz: Es ist sehr schwierig, die Gründe dafür genau aufzuschlüsseln, warum dieser Trend gekippt ist. Einfache Antworten wie die veränderte soziale Zusammensetzung und der größere Anteil von Kindern, die Deutsch nicht als Familiensprache sprechen, greifen deutlich zu kurz. Sie haben als Teilgründe ihre Berechtigung, aber sie können nicht die Entwicklung in ihrer Gänze erklären. Genauso wenig kann einzig die Corona-Pandemie dafür verantwortlich gemacht werden. Es gibt jedoch einige systemische Probleme im deutschen Bildungssystem, über die man in diesem Zusammenhang nachdenken sollte. Dazu gehört die Tatsache, dass Bund und Länder in Deutschland eine Reihe von guten Förderprogrammen initiiert haben, die zwar zentrale Entwicklungsfelder der Schule adressieren, leider aber nicht kohärent miteinander verbunden sind – zum Beispiel die großen länderübergreifenden Programme wie LemaS für die Begabungs- und Leistungsförderung von Schülerinnen und Schülern, SchuMaS zur Förderung von Schulen in herausfordernden Lagen, BiSS-Transfer, eine Initiative zum Transfer von Sprachbildung, Lese- und Schreibförderung in Schulen und Kitas oder QuaMath, ein Programm zur Entwicklung von Unterrichts- und Fortbildungsqualität in Mathematik. Hinzu kommen eine Reihe von spezifischen Programmen in den Ländern, die zum Teil die gleichen Gegenstandsbereiche adressieren wie die großen länderübergreifenden Programme, etwa für Schulen in schwieriger Lage, „23+ Starke Schulen", „S⁴ Schule stärken, starke Schule!", Bonus oder für den Unterricht Fachoffensive Deutsch und Fachoffensive Mathematik. Sie stehen eher als isolierte Insellösungen da und sind teilweise nicht in andere, schon länger bestehende Unterstützungssysteme der Bundesländer eingebunden. Oftmals sind Programme, die Fördermaßnahmen im Fachunterricht adressieren, nicht mit Maßnahmen verzahnt, die die Schulleitungen und die Schulentwicklung unterstützen oder die Schule als Gesamtorganisation in den Blick nehmen. Für eine erfolgreiche Arbeit vor Ort wäre es wichtig, die verschiedenen Verantwortungsebenen aufeinander abzustimmen. Gemeint sind hier alle im System beteiligten Akteure, also Schulträger, Schulaufsicht, Kommunen, Ministerialverwaltung, Landesinstitute und Qualitätsagenturen, Schulentwicklungsbegleitung und schließlich und vor allem auch die einzelnen Schulen, die alle abgestimmt und gemeinsam arbeiten müssen. Ich glaube, wenn wir hier kohärenter werden im System, haben wir auch eine Möglichkeit, mehr Ressourcen zu mobilisieren, um benachteiligte Kinder besser zu fördern.

Redaktion: Können Sie genauer erklären, inwiefern es dem deutschen Bildungssystem an Kohärenz mangelt?

Maaz: Kohärenz setzt erst einmal voraus, dass man eine gemeinsame Zielperspektive hat. Die gab es aber bisher selbst bei großen Bund-Länder-Programmen oftmals nicht. Es geht des Weiteren darum, dass man sich überlegt: Wie lassen sich die gesetzten Ziele, die gewünschten Wirkungen, eigentlich systematisch erreichen? Welche Verknüpfungen zu anderen Programmen bestehen und müssten berücksichtigt werden? Wir fokussieren uns da immer sehr schnell auf den Unterricht. Das ist natürlich ein wichtiger Part, aber gleichsam auch der letzte Teil im Lehr-Lernprozess. Es gibt viele, die ihm vorgeschaltet sind. Das heißt, wenn ich etwas im Unterricht bewirken will, muss ich vielleicht erst die Schulleitung erreichen, muss erst das Kollegium ins Boot holen, um eine gemeinsame Idee von Schule in einem spezifischen Sozialraum zu bekommen. Diese Zusammenhänge sind in den vergangenen Jahren nicht differenziert genug berücksichtigt worden. Es müssen den Schulen bessere Entwicklungsangebote gemacht werden, die Schule als eine Gesamtorganisation in den Blick nehmen und die unterschiedlichen Programme, Initiativen und Maßnahmen kohärent zusammenbringen. Und das wird nur möglich sein, wenn die Unterstützungssysteme in den Ländern auch darauf ausgerichtet sind. Dafür muss die Steuerungslogik wirklich zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden. Sie darf nicht nur die unmittelbaren Interaktionsprozesse zwischen Lernenden und Lehrenden berücksichtigen, sondern muss auch die strukturellen Bedingungen integrieren. Um das einmal beispielhaft zu verdeutlichen: Wir evaluieren das Schulsystem vornehmlich am Output-Kriterium Leistung, das wir aber in seiner Gänze nicht systematisch qualitativ entwickeln. Wir haben in vielen wichtigen Bereichen, die Einfluss auf die Leistungsentwicklung ausüben, keine bundesweit geteilten Standards, etwa bei der datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung. Hier muss sich etwas ändern.

Redaktion: Sehen Sie den Föderalismus als hinderlich, um die von Ihnen erwähnte Kohärenz herzustellen?

Maaz: Das ist eine Frage, die uns wenig weiterhilft. Denn das Gegenstück zur föderalistischen Struktur – ein zentralistisches System – ist in Deutschland aufgrund der Historie und Tradition nicht denkbar. Die Frage ist dann also: Wie lässt sich in dieser föderalen Struktur die richtige Mischung aus Kooperation und Wettbewerb erreichen? Es ist gut, dass einzelne Länder das datenbasierte Arbeiten im Sinne einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung voranbringen. Zugleich sollten die anderen Länder davon lernen und solche erfolgreichen Ansätze übernehmen. Es muss nicht jedes Land alles selbst erproben. Wir hatten während Corona eine Chance dazuzulernen, die der Föderalismus leider nicht hinreichend genutzt hat. Die Länder haben sich nicht auf eine klare Linie geeinigt, in Bundesland A wurde anders mit Corona umgegangen als in Bundesland B. Schlimmer noch: Innerhalb der Bundesländer selbst gab es zum Teil sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Ich finde, hier sollte man sich ehrlich machen, Fehler in der Vergangenheit eingestehen und sich künftig gemeinsam in Bezug auf Wettbewerb und Kooperation weiterentwickeln – im Sinne der Kinder und Jugendlichen. Das bedeutet auch, dass man bildungspolitischen Entscheidungen Raum geben muss, sich zu entwickeln. Keine dieser Maßnahmen wird innerhalb einer Legislaturperiode ihre Wirkung entfalten. Daher macht es wenig Sinn, wenn man das System alle vier oder fünf Jahre umstößt. So ein ständiges Hin und Her ist einer Entwicklung von Kohärenz auf keinen Fall zuträglich.

„Es geht darum, was die Schule in ihrer spezifischen Situation tatsächlich braucht. Wir wollen die Schule ganzheitlich sehen und uns nicht ausschließlich auf den Unterricht fokussieren.“

Prof. Dr. Kai Maaz

Redaktion: Wie werden Sie als Verbundleiter der Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark”, die ebenfalls für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen will, den eigenen Ansprüchen an Kohärenz gerecht?

Maaz: Unser Ziel im Verbund bei „Schule macht stark” ist es, Schul- und Unterrichtsentwicklung aus einem Guss anzubieten. Diese ist dabei nicht nur auf den fachlichen Unterricht ausgerichtet, sondern leistet auch Unterstützung für die überfachliche und außerschulische Entwicklung. Wir gehen hier in einen Beratungsprozess, der ständig weiterentwickelt und verbessert wird. Wir erheben Daten zu Ausgangslagen und Entwicklungszielen und analysieren sie zusammen mit den Schulen. Auf dieser Basis formen wir gemeinsam Perspektiven und definieren Ziele. Es geht darum, was die Schule in ihrer spezifischen Situation tatsächlich braucht. Wir wollen die Schule ganzheitlich sehen und uns nicht – wie oben beschrieben – ausschließlich auf den Unterricht fokussieren. Wenn etwa strukturierte Leseförderung mehrmals in der Woche durchgeführt werden soll, kann die Schule ein Förderband einführen. So werden Unterrichts- und Schulentwicklungsmaßnahmen sinnvoll miteinander verzahnt. Wir treffen mit diesem Programm aber natürlich auch auf die schon genannten Hürden: Es gab eben zum Beispiel zunächst keine geteilte Zielperspektive, auch wenn in der Ausschreibung des Programms festgelegt ist, dass es darum gehen soll, die mathematischen und sprachlichen Leistungen der Kinder zu erhöhen. Mir haben dann aber Schulleitungen gesagt: „Mathe und Deutsch sind nicht unser Problem. Wir wollen außerunterrichtliche Bildung machen, eine Verknüpfung mit unserem Sozialraum herstellen.” Hier wird deutlich, wie schwierig es manchmal sein kann, den gemeinsamen Nenner zu finden – denn möglicherweise gibt es in diesen Schulen dennoch ein Problem in der Unterrichtsentwicklung der beiden Hauptfächer.

Redaktion: Wie lösen Sie dieses Problem?

Maaz: Wir nehmen uns die Zeit, genau hinzuschauen und eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Wir haben bei „Schule macht stark” einen Ansatz, den wir als ko-konstruktiv bezeichnen. Das heißt, wir implementieren kein fertiges Portfolio in einer Schule und verschwinden dann schnell wieder. Stattdessen gehen wir gemeinsam mit den Akteuren in die Situationsanalyse. Und das braucht Zeit, nicht nur auf Ebene der Schule, sondern auch auf Ebene der Bildungsverwaltung. Denn man startet, wie gesagt, nicht sofort mit der Implementation. Es gilt zunächst, die aktuelle Lage zu beschreiben und damit den Ursachen auf den Grund zu gehen. Und genau hier müssen die unterschiedlichen Teile unseres Systems lernen, dass sich nur mit diesen Aufwänden nachhaltige Lösungen erreichen lassen. Das gemeinsame Eruieren von Herausforderungen und Problemlagen ist auch ein Teil der Projektarbeit. 

Redaktion: Was kann man in Deutschland von Ländern lernen, die das Thema soziale Gerechtigkeit in der Bildung deutlich besser im Griff haben?

Maaz: Von anderen Ländern lässt sich tatsächlich einiges lernen, gerade von jenen, die ein ähnlich herausfordernd großes Bildungssystem aufweisen wie Deutschland. Es lohnt sich zum Beispiel, nach Kanada zu schauen, wo eine sehr detaillierte Datenorientierung in der Bildung gepflegt wird. Dort werden Lernstände regelmäßig erhoben und dokumentiert, immer mit der Intention zu erkennen, wo jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schüler im Augenblick steht und wie er oder sie sich entwickelt. Das setzt voraus, dass man die Lernstände auf die einzelnen Individuen zurückführen kann. Denn nur so lässt sich für Lehrpersonal, Schulleitung und Schulaufsicht schnell erkennen, wenn bei einem Kind die Ergebnisse auf bestimmte Problemlagen hindeuten. An dieser Stelle kann dann eine verpflichtende Förderung ansetzen. Darüber hinaus ermöglicht die Datenorientierung intensive Netzwerkarbeit zwischen Schulen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Die merken dann: Ich bin nicht allein mit dem, was ich mache, es gibt andere, von denen ich lernen kann. Weiterhin sollte man die Bildungsziele in der frühen Bildung nennen, die in vielen Ländern eine ganz andere Bedeutung und Verbindlichkeit genießen. Da wird nicht in erster Linie das freie Spiel betont. Viel mehr gibt es einen klaren Bildungsauftrag, der darauf zielt, bestimmte Vorläufer-Kompetenzen am Ende der Kita-Zeit zu erreichen. Solche Kompetenzen stehen auch bei uns zumindest teilweise in den Bildungsplänen. Aber das sind keine verbindlichen Vorgaben, die dafür sorgen, dass sie auch wirklich im Kita-Alltag gefördert werden.

Redaktion: Sie haben die soziale Ungerechtigkeit weitgehend als ein systemisches Problem beschrieben. Dennoch die Frage: Sehen Sie auch Ansatzpunkte für die Praxis, an der Verbesserung hin zu einem gerechteren Bildungssystem mitzuwirken?

Maaz: Ja, da gibt es einige. Zum einen ist von Seiten der Lehrkräfte sehr wichtig, dass es eine Sensibilisierung für Heterogenität, für das Problem der sozialen Ungleichheit gibt. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Kinder, aus welchen Gründen auch immer, unterschiedliche Voraussetzungen haben. Wenn ein Kind also beispielsweise Schwierigkeiten hat, den sprachlichen Instruktionen in der Schule zu folgen, kann ich als Lehrkraft das etwa in mathematischen Kontexten berücksichtigen und zum Beispiel etwas anderes als eine komplexe Textaufgabe wählen. Diese Sensibilisierung funktioniert meiner Meinung nach aber nur, wenn Lehrpersonen nicht einzeln agieren, sondern im Team. Es ist beispielsweise enorm hilfreich, sich über die einzelnen Schülerinnen und Schüler auszutauschen: Wo siehst du die Stärken? Wo Schwächen? Wie gehst du damit um? Wie ich?

Redaktion: Was ist in diesem Kontext für die Praxis noch wichtig?

Maaz: Es ist auch wichtig, sich gemeinsam über eventuelle spezifische Förderbedarfe auszutauschen. Im Fall der Fälle gilt es dann, der Schülerin oder dem Schüler, der Familie oder den Eltern zu helfen, entsprechende Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen – vielleicht über die Schulsozialarbeit oder über Schulpsychologinnen und -psychologen. Hierzu gehören auch lerntherapeutische Angebote von Institutionen außerhalb der Schule, etwa bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Dyskalkulie. Diese Angebote gibt es in den meisten Regionen, sie sind aber leider oft noch nicht genug mit den Schulen verzahnt. Daher wäre es gut, wenn Lehrkräfte darauf hinwirken, dass Eltern ihre eventuell betroffenen Kindern testen lassen, damit sie die Chance auf eine entsprechende Lerntherapie haben. Die Lehrperson selbst wird solche Lernschwächen im Unterricht mit 25 bis 30 Kindern nicht angemessen berücksichtigen können, abgesehen davon, dass sie in den meisten Fällen gar nicht dafür ausgebildet ist. Also geht es auch hier am Ende darum, wie wir Ressourcen, die außerhalb des Unterrichts und der Schule liegen, besser nutzen und einbinden.

Redaktion: Herr Professor Maaz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Kai Maaz ist Geschäftsführender Direktor und Direktor der Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens" des DIPF – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Zudem ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität.