Von wegen einsame Streber: Leistungsstarke Schüler:innen sind gut in ihre Klasse integriert
Gute Leistungen in der Schule führen nicht dazu, dass Schüler:innen ausgegrenzt werden. Im Gegenteil, zeigt eine Studie von Dr. Claudia Neuendorf.
Claudia Neuendorf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung und Teil der wissenschaftlichen Begleitung der Hector Kinderakademien, einem Förderprogramm für besonders begabte und hochbegabte Grundschülerinnen und Grundschüler. Ihre Forschungsinteressen umfassen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, Bildungsentwicklung und empirische Forschungsmethoden.
Redaktion: Frau Doktorin Neuendorf, wie gut sind leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in ihrer Klasse eingebunden?
Dr. Claudia Neuendorf: Unsere Studie zeigt, dass Jugendliche, die gute Leistungen erbringen, in der Regel auch besser in ihre Schulklasse integriert sind. Damit bestätigt unsere Studie Ergebnisse aus vorhergehenden Untersuchungen, die ebenfalls einen positiven Zusammenhang zwischen Beliebtheit und Schulleistungen festgestellt haben. Insbesondere werden leistungsstarke Schülerinnen und Schüler wesentlich häufiger um Hilfe gebeten als leistungsschwächere. Am deutlichsten ausgeprägt ist dies bei Schülerinnen und Schülern, die in mehreren Fächern leistungsstark sind. Was Freundschaften angeht, zeigt unsere Studie, dass Einserschülerinnen und -schüler nur geringfügig weniger Freundschaften haben als Schülerinnen und Schüler im mittleren Leistungsbereich. Der positive Zusammenhang zwischen Leistung und Freundschaften wird also besonders durch das Fehlen von Freundschaften im unteren Leistungsbereich bedingt.
„Unsere Entscheidung, wen wir mögen und wen nicht, hängt von einer Menge Faktoren ab, nicht nur von der Leistung in den Hauptfächern.“
Dr. Claudia Neuendorf
Redaktion: Warum hält sich das Stereotyp vom unbeliebten Streber dennoch so hartnäckig?
Neuendorf: Ich denke, dass Medien eine nicht unerhebliche Rolle dabei spielen, solche Klischees am Leben zu halten – sei es in Kinderfilmen oder in Schlagzeilen großer Tageszeitungen. Darüber hinaus müssen wir uns auch in der Forschung kritisch damit auseinandersetzen, ob wir zur Aufrechterhaltung dieser Stereotype beitragen. Es gibt beispielsweise Forschungsarbeiten, in denen Schülerinnen und Schüler dazu befragt werden, wie sie eine hypothetische neue Mitschülerin oder einen hypothetischen neuen Mitschüler einschätzen würden, der oder die besonders gut in der Schule ist. Die Antwortalternativen enthalten dann häufig eben jene Stereotype. Dadurch wird den Kindern eine bestimmte Wahrnehmung von leistungsstarken Schülerinnen und Schülern suggeriert. In der Realität zeichnen sich Kinder und Jugendliche dagegen durch ganz unterschiedliche Eigenschaften aus. Dazu zählt, wie freundlich und hilfsbereit ein Kind ist, ob es sich für seine Mitschülerinnen und Mitschüler einsetzt oder ähnliche Interessen teilt. Unsere Entscheidung, wen wir mögen und wen nicht, hängt also von einer Menge Faktoren ab, nicht nur von der Leistung in den Hauptfächern.
„Die soziale Integration wirkt sich auf viele Faktoren einer gelingenden Entwicklung aus, zum Beispiel auf die Motivation, die körperliche und geistige Gesundheit oder die Schulleistung.“
Dr. Claudia Neuendorf
Redaktion: Welche Bedeutung haben soziale Beziehungen für Kinder und Jugendliche?
Neuendorf: Soziale Beziehungen sind für alle Menschen wichtig, auch für Kinder und Jugendliche. Die Forschung zeigt, dass sich die soziale Integration auf viele Faktoren einer gelingenden Entwicklung auswirkt, zum Beispiel auf die Motivation, die körperliche und geistige Gesundheit oder die Schulleistung. Wenn sich Kinder und Jugendliche angenommen und akzeptiert fühlen, entwickeln sie Selbstvertrauen und können auch schwierige Situationen bewältigen. Kinder hingegen, die beispielsweise in der Schule gemobbt werden, entwickeln oft langfristig psychische Probleme, die sich bis ins Erwachsenenalter auswirken.
Redaktion: Welchen Einfluss haben soziale Beziehungen auf die Leistungen von Kindern und Jugendlichen?
Neuendorf: Es ist inzwischen gut belegt, dass soziale Beziehungen und Schulleistungen positiv zusammenhängen. Allerdings ist es schwer festzustellen ob gute Beziehungen die Schulleistungen verbessern oder gute Leistungen zu guten Beziehungen führen.
Gute Beziehungen können die Leistungen verbessern, indem sich Klassenkameradinnen und -kameraden gegenseitig motivieren oder die Schule als sicherer Raum wahrgenommen wird, in dem man akzeptiert und angenommen ist. Häufig ziehen Lehrkräfte das Sozialverhalten auch – bewusst oder unbewusst – in die Leistungsbewertung mit ein. Das kann dazu führen, dass Kinder, die hilfsbereiter sind, beispielsweise bessere Noten erhalten.
„Intelligenz – ein starker Prädiktor für gute Leistungen – kann auch die Entwicklung sozialer Fähigkeiten befördern.“
Dr. Claudia Neuendorf
Gleichzeitig können gute Leistungen aber auch zu guten Beziehungen führen, etwa indem Schülerinnen und Schüler gefragte Lernpartner sind. Die Forschung zeigt zudem, dass Intelligenz – ein starker Prädiktor für gute Leistungen – auch die Entwicklung sozialer Fähigkeiten befördern kann. Intelligente Schülerinnen und Schüler sind eher in der Lage, verschiedene Aspekte in die Bewertung und Lösung von sozialen Problemen einzubeziehen, weil sie die Reaktionen anderer auf das eigene Verhalten antizipieren und sich entsprechend verhalten können oder sich auch einfach Namen und Gesichter besser merken können. Das bedeutet nicht, dass soziales Verhalten an eine hohe Intelligenz gebunden ist. Aber es kann bedeuten, dass gute Schulleistungen und ein effektives Sozialverhalten teilweise gemeinsame Ursachen haben.
Wie lässt sich soziale Integration messen?
Je nach Studie wird soziale Integration unterschiedlich operationalisiert. In der Psychologie ist es Tradition, die soziale Integration darüber zu erfassen, wie eingebunden sich die befragte Person fühlt. Dafür werden Kindern Fragen nach ihrer subjektiven Wahrnehmung gestellt. In der Soziologie und teilweise auch in der Erziehungswissenschaft kommen Netzwerkfragebögen zum Einsatz. Dabei werden Kinder gefragt, wen aus ihrer Klasse sie beispielsweise als Freundin oder Freund betrachten oder wen sie weniger mögen. Mit dem Ergebnis können verschiedene Indizes gebildet werden, indem beispielsweise ermittelt wird, wie viele Nominierungen ein Kind erhält. Wichtig ist dabei der Unterschied zwischen sozialem Status und der Einbindung in Freundschaftsnetzwerke, denn Schülerinnen und Schüler, die als allgemein beliebt wahrgenommen werden, müssen nicht zwangsläufig diejenigen sein, die von vielen als Freundin oder Freund nominiert werden.
In der Studie von Neuendorf und Jansen (2023) wurde ein breites Verständnis von sozialer Integration zugrunde gelegt, welches sowohl die subjektiv wahrgenommene Integration als auch die Nominierung durch Mitschülerinnen und Mitschüler berücksichtigt.
Redaktion: Unterscheiden sich Jungen und Mädchen in ihren sozialen Beziehungen?
Neuendorf: Tatsächlich konnten bisherige Forschungsarbeiten Unterschiede in den Freundschaftsmustern von Jungen und Mädchen nachweisen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Jungen in den Schulpausen in größeren Gruppen spielen. Mädchen dagegen haben in der Regel eher kleinere Freundschaftsnetzwerke und legen Wert auf wenigere, aber intimere Beziehungen. Auch die Ergebnisse unsere Studie deuten in diese Richtung. Den größten Unterschied zwischen Jungen und Mädchen sahen wir darin, dass Mädchen häufiger um Hilfe bei Problemen gefragt wurden als Jungen. Dagegen wurden deutlich häufiger Jungen genannt, wenn Schülerinnen und Schüler die Frage beantworten sollten, neben wem sie nur ungern sitzen möchten. Das bestätigt vorherige Forschungen, die nahelegen, dass Mobbing häufig männliche Personen trifft.
Redaktion: Ihre Studie hat sich außerdem mit Geschlechterstereotypen befasst. Hier hält sich die Annahme, dass Mädchen, die gute Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern erbringen, eher von ihren Mitschüler:innen ausgeschlossen werden als Mädchen, die in vermeintlich geschlechtskonformen Fächern gute Noten erzielen. Umgekehrt gilt das gleiche für Jungen. Zu welchen Ergebnissen kommt Ihre Studie diesbezüglich?
Neuendorf: In unserer Studie konnten wir dieses Muster nicht beobachten. Das heißt, dass Mädchen und Jungen gleichermaßen gut integriert waren, unabhängig davon, in welchem Fach sie gute Leistungen erbrachten.
Redaktion: Können solche gängigen Geschlechterstereotype Mädchen und Jungen dennoch davon abhalten, ihr volles Potenzial auszuschöpfen?
Neuendorf: Aktuelle Modelle und Forschungsbefunde deuten in zwei Richtungen. Zum einen haben Kinder und Jugendliche das Bedürfnis, als männlich oder weiblich wahrgenommen zu werden. Aus dieser Motivation heraus achten Kinder und Jugendliche genau darauf, welche offenen oder subtilen Botschaften ihnen durch ihre Umwelt, durch Vorbilder, Medien oder Mitschülerinnen und Mitschülern vermittelt werden. Anhand dieser Informationen wählen sie anschließend ihre Interessen, Vorlieben und Verhaltensweisen.
Zum anderen gibt es Grund zur Annahme, dass Schülerinnen und Schüler ihr Lern- und Leistungsverhalten nicht aus eigenem Antrieb anpassen, sondern aus Angst vor sozialer Ausgrenzung durch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, weshalb sie geringere Leistungen demonstrieren als sie könnten.
Weiterlesen: Welche Rolle spielen Geschlechterstereotype in der Schule?
Vorurteile haben Folgen. Was das im Schulalltag für Mädchen und Jungen bedeutet, erläutert Prof. Dr. Ursula Kessels in einem Gastbeitrag.
Redaktion: Auch Lehrkräfte tappen immer wieder in die Falle der Geschlechterstereotype. Wie können Schulen dazu beitragen, diese aufzulösen?
Neuendorf: Das ist eine Aufgabe, die sicherlich nicht nur den Schulen zugeschoben werden kann. Geschlechterstereotype müssen in allen Bereichen der Gesellschaft aufgelöst werden, damit Kinder und Jugendliche ihr Potenzial unabhängig von ihrem Geschlecht entfalten können. Lehrkräfte, Eltern, Medienschaffende, aber auch die Wissenschaft sollten sich dafür einsetzen, dass Stereotype sich nicht verfestigen. Die Botschaft unserer Studie lautet, dass viele leistungsstarke Kinder sehr gut sozial integriert sind, unabhängig davon, ob ihre Leistungen vermeintlich genderkonform oder non-konform sind. Diese Erkenntnis ist hoffentlich ein weiterer Baustein, um Ängste und Vorurteile in der Hinsicht abzubauen.
Redaktion: Frau Doktorin Neuendorf, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Claudia Neuendorf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung und Teil der wissenschaftlichen Begleitung der Hector Kinderakademien, einem Förderprogramm für besonders begabte und hochbegabte Grundschülerinnen und Grundschüler. Ihre Forschungsinteressen umfassen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, Bildungsentwicklung und empirische Forschungsmethoden.