Lesen fördern –
Bildungsgerechtigkeit schaffen

Die Vermittlung von Lesekompetenz ist nicht nur eine Aufgabe für die Schulen, argumentieren Dr. Tanja Rettinger und Prof. Dr. Simone C. Ehmig in ihrem Gastbeitrag.

Lesekompetenz gilt als ein Schlüssel für erfolgreiches Lernen und gesellschaftliche Teilhabe. Ihre Vermittlung gehört zum Kernauftrag von Schule. Doch um zu gewährleisten, dass alle Kinder diese wichtige Kompetenz erlangen, braucht es darüber hinaus vorschulische, außerschulische und außerunterrichtliche Leseförderung, erläutern Dr. Tanja Rettinger und Prof. Dr. Simone C. Ehmig im Gastbeitrag.

Warum Leseförderung im vor- und außerschulischen Raum?

2023 ist mit Blick auf Lesen ein Jahr der schlechten Nachrichten: 25,4 Prozent der Viertklässler (McElvany et al., 2023) und 25,5 Prozent der 15-jährigen Jugendlichen erreichen nicht die Standards für die Grundkompetenzen im Lesen (OECD, 2023). Diese sind jedoch die Voraussetzung für erfolgreiches Lernen, die weitere schulische und berufliche Ausbildung sowie die Teilhabe an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Bereits im Herbst 2022 hatte ein Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen eine deutliche Zuspitzung von Problemlagen gezeigt (Stanat et al., 2022), die seit der ersten PISA-Erhebung im Jahr 2000 in allen einschlägigen Studien belegt sind: Kinder, die in sozial- und bildungsbenachteiligten Familien aufwachsen, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit im Zugang zum Lesen eingeschränkt. Dies betrifft auch häufig Kinder mit Zuwanderungshintergrund, vor allem bei gleichzeitig niedrigem Bildungsniveau der Eltern.

Die Benachteiligung im Zugang zum Lesen beginnt bereits lange vor der Schulzeit, wenn in Familien Lesemedien, literale Praktiken und Anregungen durch die Eltern seltener eine Rolle spielen. Das gilt insbesondere für das Vorlesen. Zwar eröffnet der Besuch einer Kita Kompensationsmöglichkeiten, doch diese sind strukturell durch fehlende Betreuungsplätze eingeschränkt, wovon benachteiligte Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich häufig betroffen sind (Bock-Famulla et al., 2023).

Wenn grundlegende Voraussetzungen und Vorläuferfertigkeiten fehlen, sind sie während der entscheidenden Phase des Erwerbs von Lesekompetenzen in den Grundschulen nicht aufzuholen. Dies erklärt unter anderem den hohen Anteil Jugendlicher, aber auch Erwachsener, deren Lesekompetenzen die Mindeststandards nicht erreichen (Grotlüschen et al., 2020). Nur wenn die Zugangschancen der Kinder zum Erwerb sprachlicher und literaler Fähigkeiten von Anfang an systematisch verbessert werden, lässt sich diese fatale Entwicklung aufhalten. Dazu gehören Ansätze zur außerschulischen und außerunterrichtlichen Leseförderung, die im schulischen Raum wirksam werden und Lehrkräfte sowie das Fachpersonal im Ganztag unterstützen.

Mögliche Ansatzpunkte im schulischen Wirkungsraum

Die Institution Schule nimmt in Bezug auf den Erwerb von Sprach- und Lesekompetenzen eine zentrale Rolle ein. Aus diesem Grund ist der Anspruch, Sprachförderung schnellstmöglich in einen Prozess der durchgängigen Sprachbildung zu überführen, ein strukturell verankertes Unterrichtsziel.

Der Deutschunterricht spielt eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Lesekompetenz, aber er allein reicht dafür nicht aus. Das zeigt sich auch dadurch, dass die Sprach- und Lesekompetenzen für das fachliche Lernen nicht immer hinreichend sind (Prediger, 2022). Für eine systematische Leseförderung und Entwicklung der Lesekompetenz ist es daher notwendig, dass in allen Unterrichtsfächern darauf hingewirkt wird, die Sprach- und Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler auszubauen.

Die (Weiter-)Entwicklung von Lesekompetenz kann interdisziplinär in den unterschiedlichen Fachbereichen erfolgen und durch eine stärkere Vernetzung nachhaltiger verankert werden. Dafür müssen die Grenzen des Fachunterrichts überwunden und eine erweiterte Perspektive auf fachliche Themen eröffnet werden. Dies erfordert an Schulen eine entsprechende Lehr- und Lernkultur.

Der Vorteil eines multiperspektivischen und interdisziplinären Unterrichts besteht darin, dass durch stärkere Handlungs- und Lebensweltorientierung die Lernmotivation gesteigert werden kann. Über gemeinsame Initiativen von Bund und Ländern, wie beispielsweise durch Angebote von BiSS-Transfer, können Schulen bei der Entwicklung von Sprachbildung und Lese- und Schreibförderung unterstützt werden (vgl. Trägerkonsortium BiSS-Transfer, 2022). Die kompetenzorientierten Ansätze lassen sich durch motivationale bzw. animationsorientierte Ansätze ergänzen.

So ist es sinnvoll, Kindern und Jugendlichen einen Zugang auch zu digitalen Medien zu ermöglichen. Grundsätzlich erfordert das Lesen von digitalen Texten keine anderen, aber zusätzliche Kompetenzen (Becker Mrotzek et al., 2019). Um einer veränderten Lesekultur (u. a. KIM, 2023) ausreichend Rechnung tragen zu können, sollten neben Büchern, Comics und Zeitschriften verstärkt digitale Medien zum Einsatz kommen. Eine Bereicherung können zum Beispiel Filmprojekte darstellen, die einen zeitgemäßen Bezug zu Themen ermöglichen und damit crossmedial erschlossen werden können.

Bessere Leseförderung durch den Ausbau von Ganztagsangeboten

Chancen für erweiterte Bildungs- und Lernmöglichkeiten eröffnen sich über den Unterricht hinaus durch den Ausbau des Ganztags und die Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab dem Schuljahr 2026/27. Durch ein ganztägiges Bildungsangebot soll unter anderem die individuelle Fördermöglichkeit von Grundschulkindern verbessert werden (StEG, 2019). Dazu bedarf es ganzheitlicher Leseförderkonzepte, die an den verlängerten Schulalltag angepasst sind und neben der technischen Lesefähigkeit die individuelle wie auch die soziale Ebene adressieren.

2021 hielten 72 Prozent der deutschen Grundschulen in öffentlicher Trägerschaft Ganztagsangebote bereit (KMK, 2021), die sich bundesweit in Zuständigkeiten, zeitlichem Umfang und konzeptioneller Ausrichtung stark unterscheiden. Sie sind in voll oder teilweise gebundener oder offener Form organisiert und ermöglichen verschiedene Gestaltungsräume. Viele Grundschulen setzen auf offene Ganztagsangebote, deren Teilnahme freiwillig ist. Sie kooperieren oftmals mit der Kinder- und Jugendhilfe, wie beispielsweise Horten, aber auch anderen außerschulischen Akteuren (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022).

Der erweiterte Zeitrahmen der Ganztagsschule entfaltet jedoch nicht per se Wirkung. Vielmehr kommt es auf die Qualität der Angebote an (Kielblock, 2021). Um die Entwicklung der Lesekompetenz fortzusetzen und zu vertiefen, ist es neben einer Verzahnung von unterrichtlichen mit außerunterrichtlichen Angeboten notwendig, Bildungsprozesse und -inhalte gezielt in unterschiedlichen Lernsettings zu fördern. Die Schule kann durch vielfältige Aktivitäten im Rahmen von individuellen, aber auch gruppenbezogenen Leseförderangeboten im Unterricht und darüber hinaus einen Raum schaffen, der zum Lesen motiviert und zum Austausch über Gelesenes einlädt. Die Schulbibliothek leistet einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer solchen schulischen Lesekultur, indem sie allen Schülerinnen und Schülern den Zugang zu Büchern und Medien ermöglicht.

Außerunterrichtliche Angebote sind ein wichtiges Element der Leseförderung

Außerunterrichtliche Angebote können außerschulische Lerngelegenheiten aufgreifen und auch an Bildungsorten außerhalb der Schule wie benachbarten Jugend- und/oder Kultureinrichtungen stattfinden. In die außerunterrichtlichen Angebote fließt neben dem Bildungsverständnis der an der Schule tätigen (sozial-)pädagogischen Fachkräfte auch das der kooperierenden Träger ein. Gerade damit entstehen Freiräume für freiwillige, offene und ganzheitlich gestaltete Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche.

Unverbindliche, auf Freiwilligkeit ausgerichtete Angebote haben einen deutlichen Freizeitcharakter. An dieser Stelle können Angebotsformate wie Leseclubs und Lesescouts (etwa von der Stiftung Lesen) durch ihren stärker leseanimationsorientierten Ansatz eine systematische Leseförderung weiter unterstützen. Sie liegen vorzugsweise in der Mittagspause und vor oder nach dem verpflichtenden Teil des Unterrichtstages.

In gebundenen Ganztagsschulen gibt es hingegen verpflichtende außerunterrichtliche Angebote, an denen alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen müssen. Diese eignen sich in besonderer Weise für die Verzahnung mit dem Unterricht und stellen eine Erweiterung von Lerngelegenheiten an der Schule dar, indem sie eine Vertiefung und Erweiterung der in den Kerncurricula ausgewiesenen Kompetenzen und eine fächerübergreifende Weiterarbeit zur Verbesserung der sprachlichen Kompetenzen ermöglichen.

Eltern und außerschulische Akteure spielen eine wichtige Rolle

Eine systematische Leseförderung sollte neben dem schulischen Prozess im Unterricht und außerunterrichtlich am Nachmittag auch eine stärkere Kooperation mit Eltern und außerschulischen Partnern beinhalten. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Eltern als Partner für eine positive Entwicklung von Lesekompetenz ist von besonderer Bedeutung, denn in den Familien werden Voraussetzungen und Grundlagen geschaffen, die für den Zugang zu Kompetenzen elementar sind (siehe oben).

Dazu müssen Eltern motiviert werden, sich als Teil einer Bildungspartnerschaft wahrzunehmen, im Zusammenspiel mit den pädagogischen Fachkräften. Sie müssen befähigt werden, ihre Kinder durch regelmäßiges Vorlesen und gemeinsames Lesen bei der Erweiterung ihrer sprachlichen Kompetenzen und beim (Lesen-)Lernen zu unterstützen. In entsprechenden Angeboten kann Eltern die Bedeutung des Lesens und der eigene Einfluss auf die Entwicklung der Lesefähigkeit ihrer Kinder bewusst gemacht werden. Die Förderung, Bereitstellung und Unterstützung von Möglichkeiten zum Bildungserwerb ist vor allem für bildungsbenachteiligte Familien und ihre Kinder unverzichtbar.

Für eine gelingende Lesesozialisation der Kinder müssen neben deren Familien aber auch die verschiedenen pädagogischen und nicht-pädagogischen Fachkräfte in Schulen weiter fortgebildet und für die Bedeutung der Leseförderung sensibilisiert werden. Dies betrifft insbesondere Fachkräfte, die im außerunterrichtlichen Kontext, beispielsweise am Nachmittag im Ganztag, eingesetzt werden. Damit kann die Arbeit in multiprofessionellen Teams zusätzlich unterstützt werden.

Der Ausbau ganztägiger Angebote wird bildungspolitisch als Chance gesehen, im Zusammenwirken von Schule und außerschulischen Akteuren Potenziale besser nutzen zu können. Dazu zählen neben einer Verbesserung der individuellen Förderung und Bildungsgerechtigkeit auch die Stärkung von Schule als Lern- und Sozialraum. Die Kooperation mit außerschulischen Partnern wie Trägern und Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, gemeinwohlorientierten Institutionen und Organisationen aus Kultur, Sport und Wirtschaft ermöglichen Angebote, die selbstbestimmter und partizipativer angelegt sein können als unterrichtliche Angebote.

Die Arbeit in multiprofessionellen Teams wird dadurch um Perspektiven erweitert, die die Leseförderung im Alltag der Kinder und Familien verankern. Die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern fördert u. a. das soziale Lernen in Gruppen, interkulturelle Kompetenzen oder auch eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Entwicklung von Lesekompetenz kann weiter unterstützt werden, indem außerschulische Partner zusätzliche Lerngelegenheiten schaffen.

Dazu existieren in den verschiedenen Bundesländern Angebote von regionalen und überregionalen Kooperationspartnern und es stehen außerschulische Lernorte zur Verfügung (unter anderem Theater, Museen, öffentliche Bibliotheken als auch Stiftungen, zum Beispiel die Dieter Schwarz Stiftung im Bereich MINT). Eine weitere Öffnung von Schule und die Orientierung im Sozialraum wird auch in Familiengrundschulzentren (FGZ) umgesetzt.

Diese unterstützen Familien, indem sie verschiedene präventive Angebote an der Grundschule bündeln. Die Grundschule soll zu einem Ort der Begegnung, Beratung und Bildung für Kinder und ihre Familien entwickelt und zu einem Knotenpunkt im Quartier werden. Die Wübben Stiftung Bildung fördert beispielsweise seit 2019 eine Umsetzung im Rahmen der „Initiative Familiengrundschulzentren NRW“. Deren Ziel liegt darin, Schulen – insbesondere in sozial herausfordernder Lage – für Familien zu öffnen und in deren Rolle als Bildungsbegleitende ihrer Kinder zu stärken.