Wie lernen unsere Schüler:innen Demokratie?

Im Interview spricht Prof. Dr. Riem Spielhaus darüber, welche Bedeutung Schulen für die politische Bildung haben und welche Rolle jedes einzelne Schulfach dabei spielt.

Schulen sollen dazu beitragen, dass junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern werden. Doch wie steht es um die Demokratiebildung an deutschen Schulen? Dazu hat das Forschungsprojekt DemoS eine Bestandsaufnahme vorgelegt. Professorin Riem Spielhaus stellt die Ergebnisse der Studie vor.

Redaktion: Frau Professorin Spielhaus, Sie haben in Ihrem Forschungsprojekt eine Bestandsaufnahme zur Demokratiebildung in Deutschland in den Sekundarstufen I und II und an den beruflichen Schulen vorgenommen. Zu welchen Ergebnissen kommen Sie?

Prof. Dr. Riem Spielhaus: Überrascht hat uns zunächst, wie divers die politische Bildung in den Sekundarstufen I und II und der beruflichen Bildung organisiert ist. Sowohl zwischen den einzelnen Bundesländern als auch zwischen den verschiedenen Schultypen gibt es erhebliche Unterschiede. Selbst innerhalb eines Bundeslandes kann die politische Bildung mit unterschiedlichen Bezeichnungen, Ausrichtungen und auch Stundenzahlen auf dem Stundenplan erscheinen. Insgesamt haben wir 48 Bezeichnungen für das Fach und 61 unterschiedliche Curricula gefunden.

Für einige Bundesländer gehen mit dem Schultyp auch unterschiedliche Zielstellungen für die politische Bildung einher. Das lässt sich am Beispiel von Niedersachsen gut veranschaulichen: Während es im Gymnasium das Leitfach Politik gibt, wird in der Gesamtschule Gesellschaftslehre unterrichtet. Letztere stellt neben Institutionenkunde und politischer Partizipation das Lernen über Aushandlungsprozesse und deren Erproben sowie den Umgang mit Vielfalt in den Vordergrund. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in diesen Schulen Diversität und demokratische Beteiligung bewusster gelebt wird. Dieses Beispiel lässt bereits erkennen, wie unterschiedlich Schulen ausgerichtet sind und dass Schülerinnen und Schüler in Bezug auf das demokratische und soziale Zusammenleben ganz unterschiedlich mit Kompetenzen ausgestattet werden.

Das Forschungsprojekt DemoS

Hinter der Abkürzung DemoS verbirgt sich das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Forschungsprojekt „Subjekte der Demokratie. Aktuelle Herausforderungen und Potentiale der Demokratiebildung in Deutschland“. Das Projekt untersuchte systematisch, wie die Demokratiebildung im Politikunterricht an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen ausgestaltet ist. Dazu führte das Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut (GEI) vier zusammenhängende Teilstudien durch, darunter eine Curriculums- und Schulbuchanalyse, eine qualitative Interviewstudie zur Rolle von Demokratiebildung sowie eine Analyse der unterrichtlichen Praxis.

„Schülerinnen und Schüler sollten in der Schule die Erfahrung machen, dass sie ihre Meinung äußern können und diese berücksichtigt wird.“

Prof. Dr. Riem Spielhaus

Redaktion: Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahr 2018 sehen die Demokratiebildung als eines der obersten Ziele schulischer Bildung. Warum ist Demokratiebildung an Schulen so wichtig?

Spielhaus: Zum einen ist Schule der Ort, an dem alle Kinder und Jugendlichen zusammenkommen und an dem sie die meiste Zeit des Tages verbringen, weshalb man sie hier gut erreichen kann. Es ist aber gleichzeitig der Ort, an dem sie der Schulpflicht zufolge sein müssen. Dadurch wird Schule in gewissem Sinne auch zu einer Zwangsinstitution. Das Dilemma besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler anwesend sein müssen und es gleichzeitig demokratisch zugehen soll. Nach Auffassung der KMK sollen Schulen nicht als Zwangsinstitution wahrgenommen werden. Vielmehr sollen Schülerinnen und Schüler die Erfahrung machen, dass sie hier ihre Meinung äußern können und diese berücksichtigt wird. Das kann schon beim Schulessen oder dem Aussehen des Pausenhofes anfangen, aber auch ganz konkret die Unterrichtsgestaltung oder die Themenauswahl betreffen. Viele Schülerräte fordern zum Beispiel, dass Lehrkräfte über die Wahlpflichtbereiche, die in den Lehrplänen ausgewiesen sind, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern entscheiden. Das hat durchaus positive Effekte, wie unsere Interviews mit Lehrenden zeigen. Lehrkräfte nehmen Schülerinnen und Schüler als wesentlich motivierter wahr, wenn sie an der Unterrichtsgestaltung beteiligt sind.

Redaktion: Auf welche Weise wird Demokratiebildung in der Schule vermittelt?

Spielhaus: Politische Bildung findet auf drei Ebenen statt, die in der Politikdidaktik als „über Demokratie“, „durch Demokratie“ und „für Demokratie“ bezeichnet werden. Der Bereich „über Demokratie“ meint die Institutionenbildung und behandelt Fragen wie Was ist der Bundestag? oder Was regelt das EU-Parlament? Noch vor zwanzig Jahren bestand die politische Bildung hauptsächlich aus dieser Ebene. Inzwischen ist jedoch in jedem Lehrplan und jedem Schulbuch angekommen, dass Demokratiebildung nicht allein aus Wissen besteht. Daher geht es bei der Demokratiebildung „durch Demokratie“ gezielt darum, dass Schülerinnen und Schüler demokratische Formen und Praktiken kennenlernen und erfahren, wie sie im Klassen-, im Schulkontext oder auch durch externe Projekte zum Beispiel auf kommunaler Ebene gelebt werden. Die dritte Ebene bildet schließlich Kompetenzen wie das Erlernen von Aushandlungsprozessen, die Meinungs- und Urteilsbildung oder die Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Positionen.

„Politische Bildung findet in allen Fächern statt. Auch die Physik kann ihren Anteil an Demokratiebildung haben.“

Prof. Dr. Riem Spielhaus

Redaktion: Wie passen all diese Inhalte in die begrenzte Stundenanzahl der politischen Bildung?

Spielhaus: Ein zentraler Konsens der letzten Jahre ist, dass politische Bildung in allen Fächern stattfinden kann und soll. Bereits das Erlernen von Sprache ist Teil und Grundlage demokratischer Partizipation, denn Sprechfähigkeit bildet die Grundlage für die Artikulation der eigenen Meinung. Und selbst Fächer wie Physik haben heute ihren Anteil an der Demokratiebildung. Erst das Wissen um die Funktion von Wärmepumpen oder Solarpanels ermöglicht es, diese Debatten nachzuvollziehen und an ihnen teilzuhaben. Die Einbeziehung von Lernenden in die Gestaltung des Physikunterrichts kann darüber hinaus Erfahrungen der Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen vermitteln. Fachliche Themen und Demokratiebildung sollten daher immer miteinander und nicht nacheinander gedacht werden. Selbst oder gerade bei einem vollen Lehrplan sollte die Demokratiebildung nicht am Ende stehen, sondern im Rahmen des Fachunterrichts eingeübt werden.

Redaktion: Ihre Studie hat die Demokratiebildung in den Sekundarstufen I und II untersucht. Welche Rolle spielt die Primarstufe?

Spielhaus: Demokratiebildung – das haben wir von unseren Verbundpartnern am Deutschen Jugendinstitut gelernt – gehört auch in die Grundschule und sollte im Idealfall bereits in der Kita beginnen. Der Start des Leitfachs Politik ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt, in manchen Bundesländern und Schultypen starten die Schülerinnen und Schüler damit in der fünften Klasse, in anderen in der siebten und in Bayern zum Beispiel erst in der zehnten Klasse. Demokratiebildung findet jedoch auch jenseits des Leitfaches Politik statt und kann und muss deshalb auch beginnen, bevor es als Fach auf dem Stundenplan steht. Unsere Kolleginnen und Kollegen vom Deutschen Jugendinstitut konnten in Bezug auf die frühkindliche Bildung in Kitas übrigens zeigen, dass hier bereits Demokratiekompetenz vermittelt wird. In der Primarstufe schließen viele Grundschulen daran an. Kaum untersucht ist bisher, wie sich die Übergänge von der Kita in die Grundschule und von dort in die weiterführende Schule aus Sicht der Kinder und Jugendlichen im Hinblick auf Beteiligung und Demokratielernen gestalten.

„Meinungen sowie demokratische Handlungen und Haltungen sind nicht zu bewerten.“

Prof. Dr. Riem Spielhaus

Redaktion: Wie verträgt sich Demokratiebildung mit der Leistungsbeurteilung in der Schule? Gibt es da nicht auch ein gewisses Spannungsverhältnis?

Spielhaus: Das ist ein Punkt, den auch Lehrkräfte in den Interviews immer wieder angesprochen haben und der in der Fachdidaktik ausführlich diskutiert wird. Meinungen sowie demokratische Handlungen und Haltungen sind nicht zu benoten. Andernfalls kann der Eindruck entstehen, dass nicht die angeeignete Kompetenz bewertet wird, sondern die politische Gesinnung, die nicht unter die Benotung fallen darf. In einigen Lehrplänen wird daher klar formuliert, dass das Demokratieerfahren ausschließlich simuliert sein kann und Schülerinnen und Schüler Positionen einnehmen beziehungsweise einnehmen können, die nicht unbedingt ihre eigenen sein müssen. Es geht darum, dass Schülerinnen und Schüler ihre Demokratiekompetenz stärken, indem sie üben, eine bestimmte Meinung zu vertreten und Interessen zu formulieren, ohne dass sie diesen unbedingt zustimmen müssen. Zum anderen finden sich in den meisten Schulbüchern, die wir uns angesehen haben, auch konkrete Anregungen zur Partizipation am echten politischen Leben, zum Beispiel in der Stadtgemeinschaft. Hier steht häufig die Vermittlung von Kenntnissen über demokratische Strukturen vom Nah- bis zum Fernbereich, von der Kommune bis zur Europäischen Union im Mittelpunkt. Aktivitäten, die zur Einflussnahme, zum Beispiel im Umfeld der Schule anregen sollen, sind bewusst nicht in den Pflichtunterricht integriert, sondern finden in nicht benoteten Arbeitsgemeinschaften statt. Auf diese Weise werden Jugendliche dazu angeregt, sich Wissen darüber anzueignen, welche Strukturen es in ihrem eigenen Umfeld gibt, in denen sie sich engagieren können, wenn sie in ihrer Gemeinde etwas verändern möchten, und in einigen Schulen können sie Teilhabe direkt ausprobieren.

Redaktion: Sie haben sich in Ihrem Forschungsprojekt unter anderem mit Schulbüchern befasst. Inwieweit sind Bücher zeitgemäße Medien für die politische Bildung?

Spielhaus: Tatsächlich kann man sagen, dass Schulbücher im politischen Bereich und besonders im Mediendiskurs schnell veralten können. Schulbücher werden gut und gerne rund zehn Jahre genutzt, aber bereits in Schulbüchern von 2016, die also noch vergleichsweise jung sind, finden sich Inhalte über soziale Medien, über die die Schülerinnen und Schüler sicherlich die Stirn runzeln werden. Die Schulbücher müssen daher stetig aktualisiert werden, was selbst bei einer simplen Überarbeitung einige Monate dauern kann. Es ist daher eine berechtigte Frage, inwieweit ein Politikbuch überhaupt leisten kann, aktuell zu sein oder ob nicht vielmehr Zusatzmaterialien schneller greifen und aktuelle Entwicklungen aufgreifen können. Was wir jedoch sagen können, ist, dass die Redaktionen sehr zügig auf aktuelle Themen reagieren und Begrifflichkeiten anpassen. Wenn eine Lehrkraft das jeweils aktuelle Schulbuch verwendet, kann sie davon ausgehen, dass es auf einem guten Stand ist.

Redaktion: Lassen Sie uns kurz bei den Lehrkräften bleiben. Wenn diese, unabhängig von ihren studierten Fächern, an der Demokratiebildung beteiligt sind, stellt sich die Frage, inwieweit sie dafür ausreichend geschult sind.

Spielhaus: Zunächst einmal hat es uns gefreut zu sehen, dass die Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für Demokratie an Schulen nicht unbedingt aus dem politischen Leitfach kommen, sondern es mal eine Musiklehrkraft, mal eine Mathematiklehrkraft war, die sich unabhängig von dem Fach, das sie studiert haben, für Demokratiekompetenz einsetzen. Daneben machen sich auch einige Schulen als solche auf den Weg, darunter die „Schulen im Aufbruch“, die Schule neu denken und dadurch auch andere Möglichkeiten für die Demokratiebildung haben, weil sie in eine ganze Reihe von Aushandlungsprozessen treten. So können Lernende täglich die Erfahrung von Aushandlungen und Beteiligung an Entscheidungen machen.

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Was die Schulungsmöglichkeiten angeht, gibt es eine Reihe von Fortbildungen, angeboten beispielsweise von den Landesinstituten für Lehrkräftefortbildung oder den Landeszentralen und der Bundeszentrale für politische Bildung. Daneben können sich Lehrkräfte kompetente Teams und Unterstützung an die Schule holen, wenn sie sich in einem Thema nicht ausreichend qualifiziert fühlen – etwa aus Projekten wie „Demokratie macht Schule“. Natürlich wäre es von Vorteil, wenn Demokratiebildung Bestandteil der Grundbildung aller Lehrkräfte wäre. Der Weg zu einem solch standardisierten Angebot in allen Lehramtsstudiengängen an den Universitäten aller Bundesländer ist vermutlich jedoch weniger aussichtsreich als der Ansatz, Schulen konkret dabei zu unterstützen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und eine demokratische Schulkultur herauszubilden.

„Von den Eltern bis zur Bundesinnenministerin herrscht in Bezug auf digitale Medien eine gewisse Sorge vor, aber auch eine Ungewissheit was den Umgang betrifft.“

Prof. Dr. Riem Spielhaus

Redaktion: Ein zunehmend wichtiges Thema für die Demokratiebildung ist die Digitalisierung, die das Potential hat, mehr Teilhabe zu ermöglichen. Gleichzeitig zeigen Studien, dass die Demokratie auch unter der fehlenden Medienkompetenz vieler Menschen leidet und Fake News seriöse Diskussionen unmöglich machen. Welche Rolle spielt die Vermittlung von Medienkompetenz an Schulen?  

Spielhaus:

Das Thema Medienkompetenz hat mittlerweile in alle Lehrpläne Einzug erhalten und fast alle Curricula für die politische Bildung verankern sowohl die Chance als auch die Risiken digitaler Medien für die Demokratie zur Behandlung im Unterricht. In vielen Schulbüchern tauchen so negativ konnotierte Begriffe wie Cyber War, Fake News oder Filterblasen auf. Auf der anderen Seite gehen Schulbücher auf neue Formen der Partizipation ein, die mit Begriffen wie E-Demokratie oder E-Partizipation bezeichnet werden, darunter fallen dann elektronische Boykotte, elektronische Flashmobs oder E-Demonstrationen.

Interessant ist, dass einige Schulbücher die Politikverdrossenheit der jüngeren Generationen auf die aktuellen Formen der Demokratie wie die Parteienpolitik oder die Aushandlung in Fraktionen zurückführen, die jüngeren Menschen nicht mehr zu entsprechen scheint. Mit dem Hinweis auf elektronische Formen wird daher häufig die Hoffnung verbunden, einen neuen Weg aufzuzeigen, wie sich die Parteiendemokratie verändern und Politik für junge Menschen attraktiv werden kann.

Am Georg-Eckert-Institut planen wir, uns gerade diesen Themenkomplex in den nächsten Jahren noch genauer anzuschauen. Konkret soll es darum gehen, zu untersuchen, wie die Medienbildung und Demokratiebildung an Schulen und in Bildungsmedien verknüpft werden und welche didaktischen Ansätze bei der Vermittlung von Sensibilität im Umgang mit Fake News erfolgreich sein können. Von den Eltern bis zur Bundesinnenministerin herrscht hier eine gewisse Sorge vor, aber auch eine Unsicherheit, was den pädagogischen Umgang mit digitalen Medien betrifft. Einerseits wird vor Medien gewarnt, gleichzeitig ist das Vertrauen in Medien und in die Wissenschaft von zentraler Bedeutung für die gemeinsame Entscheidungsfindung. Zur Demokratie und zur Demokratiekompetenz gehört daher immer eine Balance aus Vertrauen und Skepsis. Wichtig ist, dass sich beides die Waage hält, dass sich nicht das Gefühl einstellt, nur noch von Verschwörungen umgeben zu sein, dass man Falschmeldungen erkennen und prüfen kann. Diese Balance ist schon für Erwachsene eine Herausforderung und für Kinder und Jugendliche sicherlich nicht weniger.

Redaktion: Mit Ihrem Projekt wollten Sie unter anderem die Frage beantworten, inwieweit Demokratiebildung zur Heranbildung von aktiven und mündigen Bürgerinnen und Bürgern beiträgt. Sehen Sie diese Erwartung erfüllt?

Spielhaus: Im schlimmsten Fall, ja (lacht). Denn das heißt, dass Schülerinnen und Schüler ihre Meinung auch wirklich kundtun, ihre Interessen äußern und Beteiligung an der Entscheidungsfindung einfordern. Die Mündigkeit der Lernenden ist übrigens auch als erklärtes Ziel in den Lehrplänen verankert.

Redaktion: Können Sie das ausführen?

Spielhaus: Das kann Schule verändern, aber auch zu Hause ankommen, wenn Kinder entsprechend dem Klassenrat einen Familienrat einberufen. Die Abläufe an Schulen verändern sich ganz maßgeblich, wenn Schülerinnen und Schüler in die wirklich wichtigen Entscheidungen einbezogen werden. Es wird häufiger diskutiert, Lehrkräfte sind aufgefordert, mehr zu erklären, und es kann auch dazu kommen, dass Grundsätzliches zur Disputation gestellt wird. Als nach dem Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 Schweigeminuten geplant wurden, stellten manche Schülerinnen und Schüler die Frage, warum nicht in gleicher Weise auch über den Syrienkrieg gesprochen und dessen Opfern gedacht wurde. Manche Lehrkräfte fühlten sich aufgrund der geographischen Nähe stärker durch den Angriff auf die Ukraine betroffen, während für einige Schülerinnen und Schüler der Syrienkrieg näher an ihrer Lebensrealität lag. Bei diesen Auseinandersetzungen und Aushandlungen geht es letztlich um die Grundsätze des Demokratielernens, und wie alle demokratischen Prozesse brauchen diese ihre Zeit, aber auch Regeln.

„Es ist wichtig, über Verhaltensregeln sowie gemeinsame Normen und Werte nicht erst im Problemfall zu sprechen, sondern diese in alltäglichen Situationen mit den Schülerinnen und Schülern einzuführen.“

Prof. Dr. Riem Spielhaus

Redaktion: Antisemitische und extremistische Tendenzen sind auch unter jüngeren Menschen verbreitet und gewinnen an Zulauf. Inwieweit können Schulen hier gegensteuern?

Spielhaus: Das Thema Antisemitismus beispielsweise findet sich in zahlreichen Schulbüchern. Die Frage, wie wir in Schulen und als Zivilgesellschaft mit Extremismus umgehen, ist dagegen nochmals ein ganz anderes Thema, bei dem es wichtig ist, Schulen und Lehrkräfte nicht allein zu lassen. Inwieweit jedoch das demokratische Mündigsein automatisch vor Antisemitismus feit, ist eine spannende Forschungsfrage, die unser Projekt so nicht beantworten kann.
Was wir aber auf jeden Fall sehen, ist, dass es wichtig ist, nicht erst im Problemfall über Verhaltensregeln sowie gemeinsame Normen und Werte zu sprechen, sondern diese in alltäglichen Situationen mit den Schülerinnen und Schülern einzuführen. Dazu regen übrigens auch Schulbücher an.

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Anja Besand, Professorin für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden erläutert im Interview, wie Schulen auf antidemokratische Zwischenfälle reagieren können.

Redaktion: Inwiefern?

Spielhaus: Einige Schulbücher führen die politische Bildung durch eine Auseinandersetzung über Klassenregeln ein. Es geht darum, bestimmte Regeln festzulegen, die das Zusammenleben organisieren, die diskutiert werden und an denen sich alle orientieren können und die sich auch einfordern lassen. Kommt es dann zu einem Extremfall wie beispielsweise eine Beleidigung unter Schülerinnen und Schülern, antisemitische oder rassistische Äußerungen, stehen diese Regeln bereits als Pfeiler, um sich mit dem Fehlverhalten auseinanderzusetzen.

Einige Schulbücher gehen dabei mittlerweile auch auf die unterschiedlichen Bedürfnisse ein, die Schülerinnen und Schüler mitbringen. Ein Schüler mit einer Hörschädigung hat andere Voraussetzungen als eine Schülerin, die gerade erst nach Deutschland gezogen ist. Diese Bedingungen gilt es – so schlägt es ein Schulbuch für die fünfte Klasse vor – im Aushandlungsprozess über die gemeinsamen Grundregeln mit zu berücksichtigen. So kann das Gespräch über den Umgang miteinander eine wichtige Übung zur Wertschätzung von Vielfalt bilden.

Redaktion: Sie haben gerade den Status quo der Demokratiebildung beschrieben. Was wünschen Sie sich für deren Zukunft?

Spielhaus: Erst einmal bin ich gespannt, wie und wohin sich Schulen durch eine stärkere Demokratisierung entwickeln werden. Schon jetzt ist es spannend zu sehen, wie viel an Schulen passiert und was einzelne Arbeitsgemeinschaften und Schulkulturen auf den Weg bringen. Das gleiche gilt für die Demokratie als solche, die sich durch die Digitalisierung und das Engagement der nachwachsenden Generationen verändern wird, die innovative Formen von Gemeinschaft und Aushandlungsprozessen einbringen.

Spannend wird es sein, den in der Einstellungsforschung festgestellten Befund, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend polarisiert, weiterzuverfolgen. Wir merken es ja selbst im Alltag, dass es sowohl im Freundes- und Bekanntenkreis als auch gesamtgesellschaftlich immer häufiger zu einer Art Verstummen kommt und Akteurinnen und Akteure nicht mehr miteinander reden, sondern aneinander vorbei oder übereinander. Das ist sehr besorgniserregend, und auch in diesem Kontext ist Schule ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen und sich nicht unbedingt aus dem Weg gehen können. Insofern hat die Schule die nicht ganz leichte Aufgabe, diese Entwicklung in Diskussionsprozessen zu begleiten. Als Forschende möchten wir dazu beitragen, herauszufinden, welche beispielsweise didaktischen Impulse dafür notwendig sind und wie Bildungsmedien Lehrkräfte unterstützen können.

Redaktion: Frau Professorin Spielhaus, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Wissenskulturen an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet die Abteilung Wissen im Umbruch am Leibniz-Institut für Bildungsmedien.