Warum es mehr Lehrkräfte mit Forschungskompetenz braucht

Lehrkräfte mit hoher Forschungskompetenz können empirische Studienbefunde eher nachvollziehen und diese in der Praxis anwenden.

Die Forschungskompetenz von Lehrkräften spielt für die Unterrichtsqualität eine entscheidende Rolle. Eine aktuelle Studie zeigt jedoch, dass es um diese Fähigkeiten unter Lehramtsstudierenden nicht gut bestellt ist. Studienautor Dr. Kris-Stephen Besa spricht über die Hürden sowie die Chancen auf dem Weg zu evidenzorientiertem Unterricht.

Redaktion: Herr Doktor Besa, Sie widmen sich in Ihrer Studie der Forschungskompetenz von Studierenden. Welche Fähigkeiten umfasst der Begriff „Forschungskompetenz“ überhaupt?

Dr. Kris-Stephen Besa: Forschungskompetenz wird durchaus unterschiedlich operationalisiert. In unserer Studie haben wir den Fokus auf fachunabhängige Forschungskompetenz gelegt, die mittels Selbsteinschätzungsverfahren erfasst wurde. Teilbereiche dieser Kompetenz sind die Fähigkeit, wissenschaftliche Literatur systematisch recherchieren zu können sowie forschungsmethodische Kenntnisse.

Redaktion: Wie steht es um die Forschungskompetenz von Lehramtsstudierenden?

Besa: Grundsätzlich bestätigt sich in unserer Forschung ein bekanntes Muster: Lehramtsstudierende zeigen deutlich geringere Forschungskompetenz als Studierende anderer Fachrichtungen. Das gilt insbesondere für Studierende, die nicht in einem gymnasialen Studiengang eingeschrieben sind. Gerade Studierende für den Bereich der Primarstufe schätzen ihre Forschungskompetenzen geringer ein als alle anderen Vergleichsgruppen.

„Das Erfahrungswissen von Lehrkräften scheint hingehend geeignet, um Praxisentscheidungen zu begründen und das empirische Wissen klar zu überstrahlen.“

Dr. Kris-Stephen Besa

Redaktion: Warum ist Forschungskompetenz für Lehrkräfte im Unterricht überhaupt wichtig?

Besa: In erster Linie geht es bei der Auseinandersetzung mit Forschungskompetenz um Professionalisierung. Lehrkräften stehen zahlreiche Wissensquellen zur Verfügung, die sie jedoch häufig problematisch hierarchisieren. Deutlich wird dies in dem bekannten Mantra „Vergiss alles, was du an der Uni gelernt hast“, das Studierende häufig zu Beginn des Vorbereitungsdienstes zu hören bekommen. Dem empirischen Wissen stehen dann eigenes und das durch Mentorinnen und Mentoren und andere Lehrkräfte tradierte Erfahrungswissen gegenüber. Dieses Erfahrungswissen scheint hingehend geeignet, um Praxisentscheidungen zu begründen und das empirische Wissen klar zu überstrahlen. Stellen Sie sich zum Vergleich einen Arzt vor, der alles im Studium Gelernte vergisst und nur auf Tipps seiner Vorgängerinnen und Vorgänger achtet, die ebenfalls ohne wissenschaftliche Grundlage arbeiten, oder der sich eigenes Erfahrungswissen im Trial-and-Error-Verfahren aneignet. Ein solcher Arzt wäre wohl rasch seine Patienten und seine Approbation los. Bei Lehrkräften scheint sich dieser Ansatz jedoch zu halten.

Redaktion: Forschungskompetenz spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, dass Lehrkräfte im Schulalltag evidenzbasierte Entscheidungen treffen. Welches unausgeschöpfte Potenzial sehen Sie in evidenzorientiertem Unterricht?

Besa: Zunächst muss man hier etwas differenzieren: Auch wenn davon auszugehen ist, dass mit steigender Forschungskompetenz auch eine stärkere Evidenzorientierung einhergeht, ist dies leider noch lange kein Automatismus.
Grundsätzlich bietet die Orientierung an Evidenzen die große Chance, eigene Handlungsweisen zu überprüfen und zu legitimieren. So können sich Lehrkräfte fragen, ob sie sich für den Einsatz einer Unterrichtsmethode entscheiden, weil sie positive Forschungsbefunde hierzu gelesen haben oder weil sie sie vor Jahren im Praktikum von einer Mentorin gelernt haben und ganz gut fanden.
Wenn wir uns ein an wissenschaftlicher Evidenz ausgerichtetes Handeln wünschen, müssen wir die Akteurinnen und Akteure zunächst in die Lage versetzen, diese überhaupt zu finden, zu systematisieren und die Methodik dahinter zu verstehen. Und dafür braucht es wiederum entsprechende Forschungskompetenzen.

Was ist Evidenz?

Im weiteren Sinne umfassen Evidenzen nicht nur Forschungsergebnisse und mit wissenschaftlichen Mitteln erhobene Daten, sondern auch wissenschaftliche Theorien. 

Weiterlesen: Welche Art von Evidenz hilft Lehrkräften, ihren Unterricht zu verbessern?
Prof. Dr. Alexander Renkl von der Universität Freiburg erläutert in diesem Meinungsbeitrag, warum Lehrkräfte vermehrt mit Theorien arbeiten sollten.

Redaktion: Wie lässt sich Forschungskompetenz fördern?

Besa: Forschungskompetenz im Sinne von zum Beispiel Methodenkompetenz zu fördern, ist über entsprechende Lehrveranstaltungen durchaus möglich. So kann zum Beispiel statistisches Grundlagenwissen zur Einordnung von Studienergebnissen vermittelt werden. Persönlich habe ich hierbei jedoch eher durchwachsene Erfahrungen gemacht und musste am Ende eines Seminares mit Forschungsschwerpunkt für Lehramtsstudierende feststellen, dass sich eigentlich keine positiven Effekte zeigten.

„Wenn wir das Lehramtsstudium als berufsbezogene Lehrkräfte(aus)bildung wahrnehmen, dann sollten die praktischen Implikationen der wissenschaftlichen Erkenntnisse stärker in den Mittelpunkt gerückt werden.“

Dr. Kris-Stephen Besa

Redaktion: Muss sich das Lehramtsstudium also grundlegend ändern?

Besa: Das ist der entscheidende Punkt. Wenn wir das Lehramtsstudium als berufsbezogene Lehrkräfte(aus)bildung wahrnehmen, dann sollten die praktischen Implikationen der wissenschaftlichen Erkenntnisse stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. In einer noch nicht publizierten Studie mussten wir leider feststellen, dass es weder erfahrenen Lehrkräften noch Referendarinnen und Referendaren oder Lehramtsstudierenden gelingt, explizite empirische Studien für ihre Unterrichtsplanung zu benennen. Forschung spielt hier einfach keine Rolle.
Die Ursache hierfür ist auch in der Struktur der Lehrkräftebildung zu suchen. Einerseits, weil mit vielen Ungewissheiten umgegangen werden muss, und andererseits, weil eine Herangehensweise, die auf die Bedeutung einzelner Ergebnisse setzt, möglicherweise zu kleinschrittig ist. Dass Lerntypen „Bullshit“ sind, wie Georg Krammer von der PH Steiermark neulich in einem Podcast recht plakativ festgestellt hat, gilt unter Bildungsforschenden als Konsens. Lehrkräfte und Lehramtsstudierende hängen solchen Konzepten jedoch in hohem Maße nach. Natürlich können wir in der hochschulischen Lehre diesen Mythos schnell ausräumen, aber das ist letztlich nur ein sehr kleines Wissenselement über schulische Unterrichtsgestaltung in einem riesigen Pool von fach-, fachdidaktischem und bildungswissenschaftlichem Wissen. Wollen wir hier tatsächlich zu mehr Professionalisierung beitragen, braucht es eine Einstellungsänderung. Es sollte daher ein klares Ziel sein, die Bedeutsamkeit von (empirischen) Evidenzen in der Lehrkräftebildung auf Basis von Positivbeispielen und mit Umsetzungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um hierrüber die langfristige Auseinandersetzung von Lehrkräften mit entsprechendem Wissen zu befördern.

Redaktion: Studierende anderer Fachrichtungen zeigen in Ihrer Studie eine höhere Forschungskompetenz als Lehramtsstudierende. Schließt sich hier eine Diskussion über strengere Eingangsvoraussetzungen für das Lehramtsstudium an?

Besa: An den Eingangsvoraussetzungen zu drehen, halte ich für eine realitätsferne Überlegung. Der Trend geht aufgrund des prognostizierten Lehrkräftemangels aktuell eher in die Richtung, entsprechende Standards aufzuweichen. Meines Erachtens sollte man daher schauen, wie auch über (oftmals leider wenig wissenschaftliche) Lehrkräftefortbildungen gewirkt werden kann, insbesondere mit Blick auf Quer- und Seiteneinstiege. Letztere Gruppe finde ich im Übrigen sehr spannend für den Diskurs: Denn auf einmal muss die universitäre Lehrkräftebildung doch als Begründung für die eigene Professionalität herhalten, um sich von den Quer- und Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern abzugrenzen, obwohl diese im Schulalltag, wie bereits erwähnt, sonst kaum eine Rolle spielt.

Redaktion: Herr Doktor Besa, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Kris-Stephen Besa ist Akademischer Rat an der Universität Münster am Lehrstuhl für Allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung. Derzeit vertritt er die Professur für Erziehungswissenschaft an der Universität Konstanz.