Was guten Unterricht ausmacht
Im Gastbeitrag erläutert Prof. Ulrich Trautwein die Grundvoraussetzungen für Lernerfolg in der Schule
Als Bildungsforscher werde ich immer wieder gefragt, wie sich die Lernerfolge von Schülerinnen und Schülern möglichst schnell und zuverlässig verbessern lassen. Sollten Gymnasien zu G9 zurückkehren, Noten abgeschafft oder mehr Klausuren geschrieben werden? Braucht es gar neue Schulformen? Meine Antwort ist in der Regel: Erfolgreiches Lernen fängt mit der Unterrichtsqualität an. Denn neben den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler ist kein Faktor so eng mit dem Lernen verbunden wie die Unterrichtsqualität.
Wann ist Unterricht wirksam?
Doch was genau verstehen Bildungsforscherinnen und – forscher eigentlich unter hoher Unterrichtsqualität? In vielen Bereichen hält sich nach wie vor die Annahme, dass Unterricht besonders dann qualitativ hochwertig sei, wenn das Setting, in dem gelernt wird, möglichst innovativ ist oder die Unterrichtsmethoden möglichst abwechslungsreich. Innovativer Unterricht ist aber nicht gleich guter Unterricht. In der Bildungsforschung besteht nach zwei Jahrzehnten Forschung heute weitgehender Konsens darüber, dass es nicht die eine optimale Unterrichtsmethode gibt, wohl aber eine Reihe von Qualitätskriterien guten Unterrichts, die sich wesentlich in drei Basisdimensionen – Klassenführung, kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung – zusammenfassen lassen.
Klassenführung: Wie gut gelingt es, möglichst viel Unterrichtszeit für den Unterricht zu verwenden, indem Schülerinnen und Schüler „bei der Sache“ sind und Störungen unterbleiben?
Kognitive Aktivierung: Inwieweit werden Lernende dazu angeregt, sich aktiv und vertieft mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen, beim Lernen ‚am Ball‘ zu bleiben und zentrale Inhalte des Faches nachhaltig im Langzeitgedächtnis zu verankern?
Konstruktive Unterstützung: Auf welche Weise erfahren Schülerinnen und Schüler bei Verständnisproblemen Unterstützung? Dazu zählt sowohl die emotionale und motivationale Unterstützung im Sinne einer wertschätzenden Schüler-Lehrer-Beziehung als auch eine methodisch-didaktische Unterstützung durch individuelle Hilfestellungen bei individuellen Lernbedürfnissen.
Welche Bedeutung haben Tiefenstrukturen für die Unterrichtsgestaltung?
Dass in diesen Basisdimensionen die Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Lernen liegen, hängt vor allem mit ihrer ‚Verortung‘ zusammen. Zur Veranschaulichung bemüht die Bildungsforschung hier gerne die bildliche Metapher eines Eisberges. Der sichtbare Teil über der Wasseroberfläche steht dabei für all jene Bestandteile der Unterrichtsgestaltung, die auch für Außenstehende schnell ersichtlich sind, wenn sie ein Klassenzimmer betreten. Dazu gehört, ob der Unterricht im Klassenverband oder in Lerngruppen stattfindet (Organisationsform), ob frontal oder projektbezogen unterrichtet wird (Methoden) und ob Schülerinnen und Schüler in Gruppen-, Partner- oder Einzelarbeit arbeiten (Sozialformen). Die Unterrichtswissenschaft spricht von sogenannten Sichtstrukturen.
Die Forschung zeigt allerdings, dass der wesentliche und für den fachlichen Leistungszuwachs bedeutsame Teil unter – um in der Eisberg-Metapher zu bleiben – der Wasseroberfläche liegt, in den sogenannten Tiefenstrukturen. Hierzu gehören all jene Merkmale der Lehr-Lern-Prozesse, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind, also die Basisdimensionen wirksamen Unterrichts.
„Der Fokus auf die Tiefenstrukturen kann dazu beitragen, den letztlich destruktiven Streit um „die beste Methode“ zu überwinden.“
Prof. Dr. Ulrich Trautwein
Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Schulleitungen und Lehrkräfte nicht mehr mit geeigneten Unterrichtsmethoden auseinandersetzen sollten. Im Gegenteil: Unterrichtsmethoden helfen, dem Unterricht eine Struktur zu geben und wesentliche Lernziele zu erreichen. Der Fokus auf die Tiefenstrukturen kann aber dazu beitragen, den letztlich destruktiven Streit um „die beste Methode“ zu überwinden. Denn in einer bestimmten Unterrichtsmethode lässt sich nicht die Lösung aller Probleme finden. Anders ausgedrückt: Nicht die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler projektbezogen arbeiten (Sichtstruktur) verbessert ihre Leistungen und erhöht ihre Motivation, sondern wie die Projektarbeit ausgestaltet ist (Tiefenstruktur).
Sind mehr als drei Basisdimensionen denkbar?
Sowohl in der Forschung als auch in der Praxis wird immer wieder darüber diskutiert, ob es wirklich „nur“ drei Basisdimensionen gibt oder ob dem Lernerfolg doch einige Ebenen mehr zugrunde liegen. Die schlichte Antwort auf diese Frage ist, dass es hier objektiv gesehen keine „richtige“ oder „falsche“ Lösung gibt. Je nach Untersuchungsinstrument kann die Zahl der Dimensionen variieren. Aber: Das Modell der drei Faktoren hat sich in vielen empirischen Studien bewährt – und zeigt sich nicht zuletzt für den Einsatz in Aus- und Fortbildung von Lehrkräften als Vorteil, weil es „schlank“ und „eingängig“ ist.
Auch bei neuen Herausforderungen im Schulalltag bietet das Modell der Basisdimensionen Orientierung für den Unterricht. Ein Beispiel dafür ist die Digitalisierung: Bewerten Schulleitungen und Lehrkräfte digitale Medien mit den drei Basisdimensionen im Hinterkopf, lassen sich leicht Chancen (z.B. Adaptivität, kognitive Aktivierung), aber auch Gefahren (z.B. Zeitverschwendung durch nicht vorhandene/funktionierende Endgeräte oder niveaulose Apps) identifizieren. Denn auch hier gilt: Über den Lehr-Lernerfolg entscheidet nicht die bloße Verwendung digitaler Geräte, sondern wie diese im Unterricht eingesetzt werden.
„Im Prinzip lässt sich das Modell der Basisdimensionen auf alle Schulfächer gleichermaßen anwenden.“
Prof. Dr. Ulrich Trautwein
Gibt es fachspezifische Unterschiede?
Ein weiterer Vorteil der Basisdimensionen, ist, dass sich das Modell – zumindest theoretisch – auf alle Schulfächer gleichermaßen anwenden lässt. Lehrkräfte können sich dadurch auch mit fachfremden Kolleginnen und Kollegen über Unterrichtsqualität austauschen. Allerdings bestehen in der Herangehensweise auch fachspezifische Unterschiede. So muss für jedes Fach genau überlegt werden, welche Inszenierungsformen geeignet sind, um beispielsweise die kognitive Aktivierung anzuregen. Außerdem wird auch in der Forschung immer wieder deutlich, dass die drei Basisdimensionen nicht alle Bereiche einzelner Fächer ausreichend berücksichtigen. Dazu gehören unter anderem Emotionen, die im Literaturunterricht eine wichtige Rolle spielen, sowie Fragen der individuellen Herkunft und persönlichen Identität, ohne deren Berücksichtigung der Geschichtsunterricht keine angemessene „Orientierung“ bei den großen Fragen der Menschheit ermöglichen kann.
„Kein Instrument ist 100 Prozent exakt.“
Prof. Dr. Ulrich Trautwein
Wie lässt sich Unterrichtsqualität messen?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Schulleitungen und Lehrkräfte stehen zudem regelmäßig vor der Frage, wie sich Unterrichtsqualität im Schulalltag überhaupt messen lässt. Und wie sie, darauf aufbauend, angepasst und verbessert werden kann. Die gute Nachricht ist: Zumindest einen ersten Eindruck darüber, wie es um die Unterrichtsqualität in einer bestimmten Klasse bestellt ist, lässt sich auf der Basis von Unterrichtsbeobachtungen mit standardisierten Beobachtungsinstrumenten sowie über die Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern in Form von Fragebögen rasch gewinnen. Beide Herangehensweisen haben sich in Studien bereits wiederholt als hervorragende Screening-Instrumente erwiesen.
Allerdings ist kein Instrument 100 Prozent exakt und so zeigen auch Detailstudien zur Genauigkeit und Gültigkeit von Unterrichtsbeobachtungen und Schülerfragebögen, dass es unter bestimmten Umständen zu Fehleinschätzungen sowie kleineren Verzerrungen kommen kann – beispielsweise weil eine Lehrkraft überzeugend wirkt (aber fachlich dennoch Schwächen aufweist) oder weil gute Schulnoten Schülerinnen und Schüler dazu verleiten, den Unterricht in einem Fach positiver wahrzunehmen als er vielleicht ist.
„Die Verbesserung der Unterrichtsqualität ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Schulleitung und Kollegium.“
Prof. Dr. Ulrich Trautwein
Was können Schulleitungen beitragen?
In Deutschland hält sich zudem die Annahme, dass die jeweilige Lehrkraft allein für ihre Unterrichtsqualität verantwortlich sei. Eine solche Vorstellung, die Schulleitungen bei der Entwicklung von Unterrichtsqualität eine passive Rolle zuweist, sorgt allerdings dafür, dass wichtige Verbesserungsmaßnahmen ausbleiben und Schülerinnen und Schüler letztlich weniger lernen als sie könnten. Deutlich wird dies besonders im Rahmen der Klassenführung, bei der eine erfolgreiche Störungsprävention unter anderem davon abhängt, dass im gesamten Kollegium Konsens darüber besteht, welches Schülerverhalten akzeptiert ist und welches sanktioniert wird. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Schulleitung, dafür zu sorgen, dass sich alle Lehrkräfte in „derselben Sprache“ über Unterrichtsqualität austauschen und Maßnahmen zur Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler entwickeln können. Entscheidend ist deshalb, dass die Verbesserung der Unterrichtsqualität als gemeinsame Aufgabe von Schulleitung und Kollegium verankert wird. Nicht zuletzt gehört hierzu auch die systematische Auswahl geeigneter Fortbildungen. National wie international bilden sich gegenwärtig Erfolgskriterien dafür heraus, wie wirksame Fortbildung gestaltet werden können – die meisten Fortbildungen in Deutschland entsprechen diesen Kriterien allerdings (noch) nicht. Die Verbesserung der Unterrichtsqualität ist deshalb ein Prozess, der Ausbildung, Praxis und Forschung gleichermaßen fordert. Dass sich die Aufgabe lohnt, sollte mittlerweile deutlich geworden sein: Eine hohe Unterrichtsqualität bedeutet für Schülerinnen und Schüler nichts weniger als einen höheren Bildungsertrag.