Wie man lernt, Klassenlehrer:in zu sein

Im Schweizer Kanton Luzern werden Gymnasial-Lehrkräfte in einem speziellen Weiterbildungs-Studiengang zur Klassenleitung ausgebildet

Seit Ende der 90er-Jahre gibt es in Luzern in der Schweiz eine spezielle Weiterbildung für Gymnasiallehrer, die eine Klassenleitung übernehmen. Studiengangsleiter Livius Fordschmid erklärt, was die Teilnehmer der Masterklasse in den umfangreichen Fortbildungen lernen.

Redaktion: In Deutschland übernimmt man meist „einfach so“ eine Klassenleitung. Wie ist das bei Ihnen, wer belegt Ihren Weiterbildungsstudiengang?

Livius Fordschmid: Das Ziel ist, dass jede Lehrkraft eines Gymnasiums, die bei uns im Kanton eine Klassenleitung übernimmt, unseren Studiengang vor oder zu Beginn der Klassenleitung belegt. Insgesamt sind es acht ganztägige Lehrveranstaltungen. Schweizer Lehrkräfte sollen fünf Prozent ihrer Arbeitszeit zur Weiterbildung aufwenden, deshalb ist es in der Schweiz gängig, dass man regelmäßig mehrtägige Weiterbildungen besucht.

„Gerade in den letzten Jahren sind viele Herausforderungen dazugekommen, so dass die Bedeutung der Klassenleitung zugenommen hat.“

Livius Fordschmid

Redaktion: Warum finden Sie es wichtig, dass Lehrkräfte auf eine Klassenleitung gesondert vorbereitet werden?

Fordschmid: Klassenlehrpersonen nehmen in Krisensituationen eine Schlüsselrolle ein. Denken Sie beispielsweise an Themen wie Sucht, Mobbing, psychische Gesundheit, plötzlichen Leistungseinbruch oder hohen Erwartungsdruck. Und gerade in den letzten Jahren sind noch einige Herausforderungen dazugekommen, so dass die Bedeutung der Klassenleitung zugenommen hat. Außerdem ist die Klassenlehrperson stets die zentrale Ansprechperson für die Lernenden und deren Erziehungsberechtigte sowie für die anderen Lehrkräfte und auch die Schulleitung bei allen Fragen, die die Klasse betreffen. Die Klassenlehrperson führt die Klasse und soll die Fähigkeit und Bereitschaft der gesamten Klasse und der einzelnen Schülerinnen und Schüler fördern, Verantwortung für sich selbst, die Klassengemeinschaft und für das Schulklima zu übernehmen.

Redaktion: In der Fachliteratur heißt es, dass die Klassenleitung eine grundlegende Verantwortung hat, Jugendliche im Umgang mit ihren Entwicklungsaufgaben zu unterstützen, weil es nicht allen (Fach-)Lehrkräften gleich gut gelingt, positive Beziehungen zu ihren Schülerinnen und Schülern aufzubauen (Kemna, 2012). Wie können Klassenleitungen das in Ihrem Studiengang lernen?

Fordschmid: Im ersten Modul geht es darum, wie man schwierige Gespräche führt. Wir lehren ein paar theoretische Grundlagen über gute Gesprächsführung, dann proben die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer zunächst lösungs- und ressourcenorientiertes Vorgehen untereinander. Anschließend festigen wir das Gelernte in Rollenspielen zu Konflikt-Gesprächen mit Lernenden, mit Eltern und auch mit Kolleginnen und Kollegen – sie alle können anspruchsvoll sein.

Man muss zunächst den Mut haben, solche Gespräche anzugehen oder zu initiieren. Ich habe gerade bei der jetzigen Generation von Lehrpersonen bemerkt, dass die nicht mehr so gerne den Telefonhörer in die Hand nehmen. Aber wenn sie es dann ein paar Mal gemacht haben, merken sie, dass es sich gerade bei den jüngeren Schülerinnen und Schülern lohnt, mal die Eltern zu kontaktieren und zu fragen, wie die ihr Kind zu Hause erleben oder wie sie bestimmte Themen sehen.

Redaktion: Warum thematisieren sie die Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen nochmal besonders?

Fordschmid: Konflikt-Gespräche zwischen der eigenen Klasse und anderen Unterrichtenden sind oft am schwierigsten. Denn da kommt beispielsweise meine Klasse auf mich zu und sagt „Der Mathelehrer, der hat das und das gemacht und das geht gar nicht.“ Und ich muss zuhören und den Konflikt dann in irgendeiner Form moderieren. Ich bin zwar als Klassenleitung nicht der oder die Vorgesetzte der anderen Lehrperson, aber die Klasse hat das Gefühl, ich sei als Klassenleitung auf einer höheren Ebene. Dabei ist es in Wirklichkeit nicht so. Und das kann sehr anspruchsvoll sein, gerade wenn die Klassenleitung auch noch jünger ist.

Wir sprechen und diskutieren dann beispielsweise darüber, wann man im Zweifel besser Nein zu einem Konfliktgespräch sagt. Alternativ sollte dann eine Schulleitungsperson oder eine externe Person wie eine Vertrauenslehrerin oder ein Vertrauenslehrer das Gespräch moderieren.  

Redaktion: Welche weiteren Entwicklungsaufgaben der Schülerinnen und Schüler werden im Studiengang thematisiert?

Fordschmid: Im ersten Modul beispielsweise sprechen wir darüber, wie man Gruppenphasen erkennen kann, also an welchem spezifischen Punkt die jeweilige Gruppe gerade steht, und wie ich als Klassenleitung den Gruppenbildungsprozess unterstützen kann. Des Weiteren geht es beispielsweise um den kompetenten Umgang mit Mobbing – also etwa um die Fähigkeit, Konflikte schnell zu erkennen, hoffentlich schon dann, wenn es noch kein Mobbing ist, sondern ein Konflikt auf Augenhöhe zwischen zwei Parteien. Und wenn es Mobbing ist, was kann ich machen? Und wo muss ich mir eventuell auch von außerhalb Unterstützung holen?

„Den Mut kriegen zu entscheiden, wo kann ich etwas alleine bewältigen und wo nicht?“

Livius Fordschmid

Es ist auch ein wichtiger Teil unseres Kurses, dass die Lehrpersonen den Mut kriegen zu entscheiden: Wo kann bzw. sollte ich etwas nicht alleine bewältigen und stattdessen den Austausch suchen mit anderen Lehrkräften oder der Schulleitung oder mich vom schulpsychologischen Dienst beraten lassen.

Weitere Themen, die im Rahmen der Fallbesprechungen mit einbezogen werden, sind u.a. Schulversagen, Schul- und Prüfungsängste, Elternabende, die Förderung von Arbeits- und Lerntechniken sowie Pubertät und Jugendpsychologie. Im letzten Modul geht es dann um die neurobiologischen Grundlagen des Lernens und wie die Klassenleitung als Lerncoach agieren kann.

Redaktion: Viele dieser Themen betreffen psychologische Entwicklungen, oder?

Fordschmid: Ja, deshalb haben wir im zweiten Modul auch einige Kontakte mit außerschulischen Institutionen, von denen die Lehrkräfte lernen können. Es kommen zum Beispiel Schulpsychologinnen und -psychologen vorbei und informieren, mit welchen Themen Kinder und Jugendliche zu ihnen kommen können und was man in welchem Alter erwarten kann. Dann treffen wir die Leitung der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da geht es auch um Prävention – auf welche Signale sollte man als Lehrperson achten? Welche Hinweise auf psychologische Gesundheit, Suchtverhalten und Ähnliches gibt es? Und dann kommt noch jemand vom Berufsinformationszentrum und erzählt zum einen etwas über die Zeit nach der Matura, dem schweizerischen Abitur, zum anderen aber auch darüber, wie es für Schulabbrecher weitergehen kann.

Redaktion: Nochmal zurück zum Thema Konflikte zwischen Schülerinnen und Schülern: Vieles läuft heute über digitale Kanäle und Social Media. Welchen Rat geben Sie Klassenleitungen, was dieses Thema angeht? Ignorieren, wenn es nicht in der Schule passiert ist, oder thematisieren?

Fordschmid: Wir sagen: Was in die Schule hineinspielt, betrifft uns. Da ist es unser großes Credo, dass man bei Konflikten in digitalen Kanälen sofort aus dem Digitalen aussteigt und dann als Klassenleitung fallspezifisch Gespräche führt und thematisiert: Wie können wir das jetzt angehen? Welche Regeln haben wir in so einem digitalen Chat? Denn auch durch einen Konflikt im Digitalen ist das Klassenklima geschädigt und da kann ich als Klassenleitung nicht so tun, als wäre nichts gewesen.

Redaktion: Herr Fordschmid, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Livius Fordschmid ist Gymnasiallehrer und Studienleiter des „Weiterbildungsstudiengangs Klassenlehrer*in an Gymnasien“ an der Pädagogischen Hochschule Luzern.