Wie man im Unterricht aus Fehlern lernen kann

Was es braucht, um aus Abweichungen vom Richtigen Lernchancen zu schaffen.

Wenn man sich mit dem Lernen aus Fehlern beschäftigt, kommt man kaum an den vielen gängigen Zitaten und Redewendungen vorbei. Tenor ist immer, dass man aus Fehlern klug wird. Doch wie genau geht das? Darüber schreiben Prof. Dr. Jürgen Seifried und Prof. Dr. Markus Dresel in diesem Gastbeitrag.

Was ist eigentlich ein Fehler? Und wie kann man aus Fehlern lernen? Diese Fragen begleiten uns unser ganzes Leben, sind aber insbesondere für die Schule und den Unterricht von Relevanz. Dort hat sich die Sicht auf Fehler verändert. Früher dominierte eine Fehlervermeidungsdidaktik, das heißt Fehler sollten beim Lernen möglichst vermieden werden. Heute sieht man die Dinge anders. Fehler werden nun immer häufiger als ein zwangsläufig auftretendes, mit Lernpotenzial einhergehendes Phänomen beim Lernen verstanden. Fehler sind demnach ein elementarer Bestandteil von Lernprozessen und eröffnen Lernchancen. Qualitativ hochwertiges Feedback sowie ein positives Fehlerklima – so die Annahme – sollten nach einem Fehler konstruktive Lernaktivitäten nach sich ziehen sowie die in Fehlersituationen häufiger auftretenden negativen Emotionen schnell überwinden helfen.

„Fehler im Unterricht sind eine Lernchance.“

Prof. Dr. Jürgen Seifried

Der Umgang mit Fehlern im Unterricht hat viel mit den sogenannten Tiefenstrukturen von Unterricht zu tun, die von Professor Ulrich Trautwein in diesem Magazin bereits thematisiert wurden. In Fehlersituationen kommt es beispielsweise darauf an, dass Lehrerinnen und Lehrer nachfragen und die Ursachen des Fehlers erkunden – dabei aber eine Beschämung der Schülerinnen und Schüler unbedingt vermeiden. In der Diskussion des Fehlers können dann unterschiedliche (richtige und falsche Lösungsansätze) gegenübergestellt werden. Dies gibt den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, die Gründe für den Fehler selbst zu erkennen. So genannte kognitive Konflikte sind ebenfalls lernwirksam. Wenn eintretende Ergebnisse nicht mit den Erwartungen (Vorverständnis) der Lernenden übereinstimmen, werden diese dazu angeregt, sich vertieft mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. So könnte man beispielsweise fälschlicherweise vermuten, dass trockene Erde Wasser (zum Beispiel bei einem Starkregen) besonders gut aufnehmen kann. Hier kann man anknüpfen und mit den Schülerinnen und Schülern mittels der Durchführung von Versuchen das Konzept der Benetzungshemmung des Bodens (Hydrophobie) erarbeiten. Dies sind alles Elemente der kognitiven Aktivierung. Voraussetzung dafür, dass dies im Umgang mit Fehlern gelingt, sind eine positive Beziehung zu und zwischen den Schülerinnen und Schülern (keine negativen oder belustigenden Reaktionen der Lehrkraft nach Fehlern, weder verbal noch nonverbal) sowie eine gute Fehlerkultur im Sinne einer konstruktiven Unterstützung (zum Beispiel angebotene Hilfestellungen). Und schließlich ist es wichtig, beim Auftreten von Fehlern im Unterricht abschätzige Reaktionen durch Mitschülerinnen und Mitschüler zu unterbinden (Klassenführung).

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Im Gastbeitrag erläutert Prof. Ulrich Trautwein die Grundvoraussetzungen für Lernerfolg in der Schule.

Was ist denn nun ein Fehler?

Ein Blick in die Literatur zeigt schnell, dass der Fehlerbegriff nicht eindeutig definiert und sprachlich vielfältig belegt ist. Es gibt beispielsweise Ausrutscher, Schnitzer oder Patzer, aber auch Irrtümer. Folgt man einem der Urväter der Fehlerforschung, nämlich Weimer (1925), so beruht ein Irrtum auf einem Mangel an Informationen, während ein Fehler durch eine Abweichung vom Richtigen beziehungsweise der Norm charakterisiert ist. Voraussetzung ist hier, dass das Richtige oder die Norm jeweils bekannt sind. Fälschlicherweise werden Fehler häufig über ihre Konsequenzen definiert. Wenn man zum Beispiel im Winter Auto fährt, ohne vorher die Scheiben zu enteisen, begeht man einen Fehler, und zwar unabhängig davon, ob die Fahrt unfallfrei endet oder nicht. Man kann also sagen, dass ein Fehler eine Abweichung vom „Richtigen“ beziehungsweise von einer gesetzten Norm ist. Fehler treten auf, obwohl sämtliche Informationen zur korrekten Vorgehensweise vorliegen und der Fehler somit im Prinzip vermeidbar wäre. 

„Ein Fehler ist eine unerwünschte Abweichung vom Richtigen beziehungsweise von einer Norm.“

Prof. Dr. Markus Dresel

Wenn man verschiedene Arten von Fehlern benennen möchte, kann man zunächst zwischen Planungs- und Anwendungsfehler unterscheiden. Diese Unterscheidung geht zurück auf die Schritte, die Schülerinnen und Schüler gehen, wenn sie ein – beispielsweise mathematisches – Problem lösen: Zunächst muss das Problem selbst identifiziert und definiert werden, dann werden die Lösungsschritte geplant und diese schließlich in die Tat umgesetzt. Häufig wird auch auf die Theorie der Handlungsregulation zurückgegriffen und Fehler auf den verschiedenen Handlungsregulationsebenen verortet. Grundsätzlich unterscheidet man hier zwischen der fähigkeitsbasierten Ebene (es geht um die Bewältigung von Routineaufgaben, und die Handlungen erfolgen auf Basis automatisierter Muster), der regelbasierten Ebene (es sollen vertraute, aber nicht vollständig routinisierte Aufgabenstellungen bewältigt werden, und die zur Lösung der Aufgaben notwendigen Regeln sind verfügbar, aber nicht routinisiert) sowie der wissensbasierten Ebene (Bearbeitung neuartiger, bisher unbekannter Aufgabenstellungen, hierzu notwendig ist die Entwicklung eines neuen Handlungsplans). Es ist davon auszugehen, dass regel- und wissensbasierte Fehler ein höheres Lernpotenzial als fähigkeitsbasierte Fehler in sich bergen, weil sie auf einer höheren Bewusstseinsebene verortet sind.

Gut untersucht sind Fehlerquellen für den mathematisch-naturwissenschaftlichen sowie den sprachlichen Bereich. Es ist mittlerweile gut beschrieben, welche typischen Fehler im Unterricht gemacht werden, und es gibt hilfreiche Lernmaterialien, die typische Fehler zum Beispiel für den Fremdsprachenunterricht oder verbreitete Fehlvorstellungen (misconceptions) für den naturwissenschaftlichen Bereich aufarbeiten. Bemerkenswert ist hier, dass viele Fehler nicht durch Unkonzentriertheiten im Sinne eines Flüchtigkeitsfehlers auftreten, sondern regelmäßig und zuverlässig zu beobachten sind. Als Beispiel kann man die fehlerhafte Anwendung der binomischen Formel anführen, wenn (a + b)2 mit a2 + b2 gleichgesetzt wird. Und im Sprachenunterricht kennt man die false friends wie beispielsweise die Übersetzung von „actual“ mit „aktuell“.

Welche Faktoren beeinflussen das Lernen aus Fehlern?

Ob aus Fehlern gelernt wird oder nicht, hängt zunächst einmal von der individuellen Reaktion auf Fehler ab. Hier wird zwischen einer kognitiven und einer motivational-affektiven Verarbeitung von Fehlern unterschieden. Auf der kognitiven Ebene geht es darum, ob Schülerinnen und Schüler den Fehler analysieren und entsprechende Lernaktivitäten starten. Bei affektiv-motivationalen Reaktionen auf Fehler steht die Aufrechterhaltung von Lernfreude und Lernmotivation im Mittelpunkt. Wird Lernenden beispielsweise im Klassengespräch ein Fehler bewusst, so können sie sich schämen und den Mut verlieren. Oder sie können sich herausgefordert fühlen und Interesse an der Lösung der Aufgabe haben. Ob dies gelingt oder nicht, hängt dann auch von den kognitiven Fähigkeiten und dem Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler ab.

Viele Untersuchungen zeigen aber, dass Schülerinnen und Schüler nicht „automatisch“ aus Fehlern lernen, sondern die Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrern benötigen. Wichtig ist dabei unter anderem die Qualität des Feedbacks, das möglichst adaptiv, also angepasst an die jeweilige Situation, gestaltet sein sollte. Hier geht es einerseits darum, wie die Lehrkraft Lernende aus einer inhaltlichen Perspektive unterstützt, wenn Fehler oder Verständnisprobleme auftreten, und andererseits um die Frage, inwiefern die Interaktion zwischen Lehrkräften und Lernenden durch Wertschätzung und Respekt geprägt ist. Wichtig ist hier auch ein positives Fehlerklima. Und wieder spielen hier affektiv-motivationale und kognitive Aspekte eine Rolle. Bei der affektiv-motivationale Komponente spielen Aspekte wie das Gefühl der Sicherheit, Fehler begehen zu dürfen, beziehungsweise die Angst vor negativen Reaktionen in Fehlersituationen eine Rolle. Bei der kognitiven Komponente geht es unter anderem um die Unterstützung bei Reflexionsprozessen bei der Fehleranalyse sowie der Erarbeitung von richtigen Lösungen. 

Was können Lehrinnen und Lehrer tun, wenn sie das Lernen aus Fehlern fördern wollen?

Von zentraler Bedeutung ist, dass Lehrinnen und Lehrer Fehler im Unterricht tolerieren beziehungsweise den Schülerinnen und Schülern verdeutlichen, dass Fehler eine willkommene Lernchance darstellen. Falsch wäre es, Fehler krampfhaft vermeiden zu wollen und dabei die Lernwege der Schülerinnen und Schülern zu stark einzuschränken. Man spricht hier von der Engführung des Unterrichts, die sich unter anderem dadurch zeigt, dass man den Schülerinnen und Schüler möglichst einfache Fragen stellt, die diese mit einer hohen Wahrscheinlichkeit richtig beantworten.

„Fehler im Unterricht vermeiden zu wollen wäre ein Fehler.“

Prof. Dr. Jürgen Seifried

Weiterhin sollten im Unterricht Lern- und Leistungssituationen klar und für die Lernenden deutlich sichtbar getrennt werden. Dann ist es für Schülerinnen und Schüler transparent, ob sie sich aktuell in einer Lernsituation befinden (hier sind Fehler erlaubt und sind nicht relevant für Leistungsbewertungen) oder ob es sich um eine Leistungssituation handelt (Fehler gehen in die Leistungsbewertung ein). Intransparent vergebene „Mitarbeitsnoten“ beispielsweise führen zu Unsicherheiten und führen gegebenenfalls dazu, dass Lernende Fehler zu vermeiden versuchen, Wissenslücken vertuschen – somit lieber gar nichts als etwas Falsches sagen.

Ein positives Fehlerklima zeichnet sich auch dadurch aus, dass Fehler aus einer fachinhaltlichen Perspektive untersucht und mit anderen besprochen werden. Dadurch können Fehlerursachen identifiziert und die Auseinandersetzung mit den Fehlerursachen ermöglicht werden. Wichtig ist hier, dass Fehler z.B. im Klassengespräch öffentlich gemacht werden, aber dabei den Schülerinnen und Schülern vermittelt wird, dass Fehler hier eben eine willkommene Lernchance sind. Empfehlenswert kann auch eine selbständige Fehleranalyse durch die Schülerinnen und Schüler mit anschließendem Austausch darüber sein. Besonders lernwirksam ist es eben, wenn Schülerinnen und Schüler ihre Fehler selbst entdecken und am Ende vielleicht sogar selbst korrigieren können.

Es gibt also viele Stellschrauben, an denen Lehrerinnen und Lehrer drehen können, wenn sie ihren Unterricht in Richtung einer Fehlerermutigungsdidaktik entwickeln wollen. Wer mehr wissen will, dem oder der sei der Praxisband von Seifried et al. (2022)  empfohlen. Abschließend wollen wir noch darauf hinweisen, dass Fehler auch aus einer unsachgerechten oder unpassenden Darstellung von Unterrichtsinhalten – sei es nun durch unpassende Erklärungen im Unterricht oder Schulbüchern – resultieren können. Unsachgemäße fachliche Darstellungen sind nicht selten das Ergebnis eines missglückten Versuchs der didaktischen Reduktion. Nicht ohne Grund steht die Anforderung, Unterrichtsinhalte didaktisch adäquat aufbereiten sowie fachlich korrekt und für die Lernenden verständlich darstellen zu können, ganz oben auf der Liste der Wünsche an eine gute Lehrperson. Und schließlich ist es wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer auch sich selbst Fehler zugestehen, diese zum Beispiel im Klassengespräch nicht vertuschen und Fehler als Lernchance aufzufassen. Ein positives Fehlerklima im Kollegium trägt hierzu entscheidend bei.