„Intervention bei Mobbing ist wichtig. Und keine Raketenwissenschaft“

Welche Schülerinnen und Schüler besonders häufig von Mobbing in Schulen betroffen sind und wie Lehrkräfte intervenieren können.

Cybermobbing wird immer mehr zum Problem an Schulen, das weisen jetzt mehrere neue Studien unter anderem der Weltgesundheitsorganisation WHO und des Robert-Koch-Instituts nach. Letzterer zufolge werden knapp neun Prozent der Schülerinnen und Schüler in der Schule gemobbt, etwa drei Prozent gaben an online gemobbt zu werden. Dr. Saskia Fischer erforscht, wie Lehrkräfte bei Mobbing am besten handeln. 

Redaktion: Die Mobbing-Zahlen sind laut der aktuellen HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) in den letzten Jahren auf konstant hohem Niveau, trotz Anti-Mobbing-Maßnahmen in vielen Schulen. Wie interpretieren Sie die Zahlen?

Dr. Saskia Fischer: Ungefähr jeder siebte Schüler wird gemobbt oder mobbt selbst. Das klingt erstmal nicht so furchtbar viel, aber auch wenn ich davon nicht direkt betroffen bin, macht das natürlich etwas mit mir, wenn das in meiner Klasse passiert. Seit 2009/2010 hat das Mobbing insgesamt abgenommen, besonders bis 2017, seitdem ist das schulische Mobbing dann gleich geblieben. Cybermobbing hat in dieser Zeit etwas zugenommen, aber wir können nicht sagen, ob das bedeutet, dass Mobbing insgesamt zugenommen hat, weil wir nicht wissen, inwiefern Cybermobbing und schulisches Mobbing sich in den Zahlen überschneidet. Für die betroffenen Schüler und Schülerinnen spielt ohnehin oft keine große Rolle, ob es on- oder offline passiert.

„Wer sich weder eindeutig als Junge noch als Mädchen fühlt, wird besonders häufig gemobbt.“

Dr. Saskia Fischer

Redaktion: Gibt es bestimmte Gruppen, die besonders häufig gemobbt werden?

Fischer: Jungen und Mädchen werden ungefähr gleich häufig gemobbt, auch bei den untersuchten Altersgruppen zwischen 11 und 15 Jahren gibt es keine allzu großen Unterschiede. Aber Schülerinnen und Schüler, die angeben, dass sie weder eindeutig Junge noch Mädchen sind, haben besonders oft angegeben, dass sie gemobbt werden. Fast jeder vierte von ihnen litt unter Mobbing. Auf diese Gruppe muss man als Lehrkraft ein besonderes Augenmerk haben und besonders auf eine gute Integration im Klassenverband achten.

Redaktion: Wie sollten Lehrkräfte reagieren, wenn sie von Mobbing erfahren?

Fischer: Ich verstehe total, wenn Lehrkräfte unsicher sind, wie sie reagieren sollen. Aber was wir anhand unserer Daten sagen können ist, dass die Frage, wie die Lehrkräfte reagieren, gar nicht so eine große Rolle spielt. Entscheidend ist, dass die betroffenen Schüler und Schülerinnen das Gefühl haben, dass die Lehrkraft überhaupt aktiv ist. Daraus können wir schließen, dass es Lehrkräfte in den meisten Fällen nicht schlimmer machen, wenn sie einigermaßen angemessen reagieren.

„Anti-Mobbing-Maßnahmen sollten nicht nur auf die unmittelbar betroffenen Schüler und Schülerinnen abzielen.“

Dr. Saskia Fischer

Die Anzahl derer, die gesagt haben, dass es die Reaktion der Lehrkraft schlimmer gemacht hat, lag bei drei Prozent. Denn besonders wenn die ganze Klasse mitbekommt, dass die Lehrkraft bei Mobbing handelt, hat das positive Auswirkungen. Wir können das statistisch in Zusammenhang bringen und sehen, dass die Reaktion einer Lehrkraft zu einem insgesamt niedrigeren Mobbing-Aufkommen in der Klasse führt. Das bedeutet, dass die Lehrkräfte ihre Maßnahmen nicht auf die unmittelbar Betroffenen und Handelnden beschränken, sondern Fälle nachbesprechen sollten, dass der Klasse klar gemacht wird „Wir tolerieren das nicht, wir werden hier aktiv.“ Denn Mobbing ist ein systemisches Problem, es betrifft nie nur einzelne in einer Klasse, sondern immer die ganze Klassengemeinschaft.

Redaktion: Ist es wirklich nur wichtig, dass die Lehrkraft reagiert? Gar nicht wie?

Fischer: Das muss ich nochmal einschränken. Alles, was den Gemobbten in Frage stellt oder die Verantwortung sogar auf das Opfer schiebt, ist nicht hilfreich. Also zu sagen, das Opfer solle sich nicht so anstellen oder mal wehren. Also alles, was pädagogisch nicht besonders fundiert ist, aber was in der Praxis natürlich trotzdem passiert.

Unsere Forschung zeigt, dass alle Maßnahmen, wo die Lehrkräfte die ganze Klasse oder das Kollegium mit einbezogen haben, langfristig am wirksamsten waren. Es ist auch sinnvoll, wenn eine Schule von vornherein eine Idee hat, wie man mit so einem Fall umgehen sollte.

Redaktion: Wovon hängt es ab, wie sehr ich als Lehrkraft in einem Mobbing-Fall aktiv werden sollte?

Fischer: Insgesamt hängt es davon ab, wie hoch das Eskalationsniveau ist. Stehen wir noch am Anfang des Mobbingprozesses? Dann kann man noch anders intervenieren, als wenn es etwas ist, das schon sehr festgefahren ist. Wir würden aber aufgrund unserer Forschungsergebnisse sagen, dass es immer sinnvoll ist, eine Kombination zu machen aus einer klaren, situativen Grenzsetzung und etwas Langfristigem.

„Die psychischen Folgen von Mobbing können massiv sein.“

Dr. Saskia Fischer

Also wenn wir uns noch am Anfang befinden, etwas in Richtung Stärkung des Gruppengefühls. Wenn es schon festgefahrener ist, braucht es andere Interventionen. Am Anfang steht so oder so eine umfassende Informationssammlung, um wirklich gut einschätzen zu können, an welchem Punkt des Mobbingprozesses man steht und wie hoch die Belastung ist. Die psychischen Folgen von Mobbing können massiv sein. Dazu spricht man zuerst mit demjenigen, der Mobbing erlebt. Dabei ist es wichtig, dass man dieser Person auch das Angebot macht, dass im weiteren Prozess nicht über Dinge gesprochen wird, die sie nicht thematisieren möchte. Und wenn die Betroffenen sagen, sie wollen gar nicht, dass etwas unternommen wird, dann sollte man sich erkundigen, was die Bedenken sind und möglichst zu einem späteren Zeitpunkt nochmal nachfragen.

Redaktion: Wie sollte man im Nachhinein auf die Person zugehen, die gemobbt hat?

Fischer: Natürlich muss auch mit denen gearbeitet werden, die das Mobbing ausgeübt haben. Da unterscheiden wir zwischen konfrontativen und non-konfrontativen Ansätzen. Beim non-konfrontativen Ansatz holt man diejenigen, die verantwortlich sind, mit ins Boot. Man sagt nicht „weil du schuld bist“, sondern sagt, dass man von jedem eine Idee braucht, was man tun könnte, um die Situation von Schüler oder Schülerin XY zu verbessern, um das Verantwortungsgefühl zu stärken. Wir glauben, dass verschiedene Eskalationsstufen verschiedene Ansätze brauchen. Und wir glauben, dass Lehrkräfte bei dem, was sie tun, authentisch bleiben müssen und den Ansatz für sich wählen müssen, hinter dem sie persönlich stehen. Wir probieren diesen von uns entwickelten Interventionsansatz aus und werden ihn in den nächsten Monaten wissenschaftlich evaluieren. Es gibt ja tausende Ansätze beim Anti-Mobbing-Thema, aber die wenigsten davon sind evaluiert.

Redaktion: Was ist das für ein Ansatz, den Sie entwickeln?

Fischer: Grundsätzlich ist es keine Raketenwissenschaft. Wir entwickeln zwar ein Anti-Mobbing-Training für Lehrkräfte, aber es ist eigentlich alltägliches pädagogisches Handwerkszeug, dass wir neu sortieren, um die Selbstwirksamkeit der Lehrkräfte zu stärken, damit sie sich im Mobbing-Fall kompetent fühlen. Denn wenn man grundsätzlich das Gefühl hat, man weiß, was man tun kann, strahlt man als Lehrkraft etwas völlig anderes aus als wenn man sich darüber noch nie Gedanken gemacht hat oder verunsichert ist, ob man mit seinem Handeln nicht alles noch schlimmer macht. Die Forschung zeigt, dass überlegtes Handeln sinnvoller ist als schnelles, zu spontanes Handeln.

Redaktion: Frau Doktorin Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Saskia Fischer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der BTU Cottbus-Senftenberg. Sie promovierte in Pädagogischer Psychologie zur Interventionskompetenz von Lehrkräften bei Mobbing und wertete für die HBSC-Studie die Daten zu Mobbing unter 11-15-Jährigen in Deutschland aus. Ihre aktuellen Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Überprüfung eines evidenzbasierten Lehrkräftetrainings bei Mobbings und mit der Kooperation zwischen Lehrkräften und Eltern bei der Prävention und Intervention von Mobbing.

  • Bilz, Ludwig/ Fischer, Saskia M.: Interventionsstrategien und Interventionserfolg von Lehrkräften bei Cybermobbing und traditionellem Mobbing aus Schülersicht. Kindheit und Entwicklung, 2020.
  • Fischer, Saskia M./ Bilz, Ludwig: Mobbing und Cybermobbing an Schulen in Deutschland: Ergebnisse der HBSC-Studie 2022 und Trends von 2009/10 bis 2022. 2024.
  • Fischer, Saskia M: Selbstwirksamkeitserwartung, Selbstregulation und Empathie als Facetten der Interventionskompetenz von Lehrkräften bei Mobbing: Zusammenhänge zum Interventionshandeln von Lehrkräften und den Mobbingerfahrungen der Lernenden. 2021.
  • Studie des Robert-Koch-Instituts zu Mobbing und Cybermobbing
  • WHO-Report zum Thema Cybermobbing