Wie können Lehrkräfte mit Extremismus umgehen?

Anja Besand, Professorin für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden erläutert im Interview, wie Schulen auf antidemokratische Zwischenfälle reagieren können.

Rechtsextreme Vorfälle an Schulen werden seit einem Brandbrief von Lehrkräften aus Brandenburg wieder intensiv diskutiert. Wie können Lehrkräfte mit antidemokratischen Zwischenfällen umgehen? Welche Aufgaben können Schulleitungen übernehmen? Und wie können schon Lehramtsstudierende auf extremistische Vorfälle vorbereitet werden? Einblicke und Ansätze aus ihrer Forschung gibt Prof. Dr. Anja Besand.

Redaktion: Frau Besand, in einem offenen Brief haben Lehrkräfte im Frühjahr auf rechtsextreme Vorfälle an einer Oberschule in Brandenburg aufmerksam gemacht. Die Lehrkräfte berichteten vom Zeigen des Hitlergrußes, Hakenkreuzschmierereien und rassistischen Beleidigungen gegenüber Kindern mit Migrationsgeschichte. Wie verbreitet sind solche extremistischen Tendenzen unter Schülerinnen und Schülern?

Prof. Dr. Anja Besand: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt nur wenige Studien, die die Verbreitung von Extremismus unter Schülerinnen und Schülern direkt erhoben haben, da man in einer solchen Studie immer mit vielen erwünschten Antworten rechnen muss. In unserer eigenen Forschung haben wir Schülerinnen und Schüler deshalb nicht nach ihren Einstellungen befragt, sondern uns Schulen als solche angeschaut und antidemokratische Zwischenfälle betrachtet. Dabei haben wir keine Schule gefunden, in der es solche Zwischenfälle nicht gab. Allerdings gehen die Schulen unterschiedlich damit um. Einige Schulen bearbeiten solche Zwischenfälle intensiv, andere Schulen reagieren eher hilflos.

Redaktion: Gibt es Unterschiede zwischen Bundesländern und Schultypen?

Besand: Systematisch liegen darüber kaum gesicherte Zahlen vor, und diese sind auch schwierig zu erheben. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass das Problem in allen Bundesländern und auch in allen Schularten gleichermaßen besteht. Als wir im Projekt „Starke Lehrer Starke Schüler“ damit begonnen haben, Fälle zu sammeln, beschränkten wir uns zunächst auf Sachsen und stellten uns anschließend die Frage, ob wir in anderen Bundesländern andere Erfahrungen gemacht hätten. Nachdem wir unsere Fallsammlung aufgebaut hatten, um mit dieser bundeweit Lehrkräfte weiterzubilden, stellte sich heraus, dass diese Fälle keineswegs singuläre Ereignisse sind. Viele der Teilnehmenden berichteten von ähnlichen Situationen aus ihrem eigenen Schulalltag.

Redaktion: In dem Schreiben verweisen die Lehrkräfte darauf, dass sie sich im Umgang mit den rechtsextremen Jugendlichen allein gelassen fühlen. Woran liegt diese Zurückhaltung von Seiten der Schulen im Umgang mit Extremismus?

Besand: Belastend ist für viele Lehrkräfte nicht allein der Umstand, dass es zu extremistischen Zwischenfällen kommt. Übrigens würde ich eher von menschenfeindlichen  Zwischenfällen sprechen oder von Bestrebungen, einen bestehenden völkerrechtlichen Zustand oder ein politisches Programm zu verändern. Belastend ist, dass Lehrkräfte den Eindruck haben, dass sie mit der Bearbeitung dieser Zwischenfälle allein gelassen werden. Sie wünschen sich Unterstützung durch die Schulleitung und durch Kolleginnen und Kollegen. Gleichzeitig sehen wir, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass Schulleitungen und das Kollegium eindeutig Haltung zeigen. In unserem Projekt waren es zuweilen auch gar nicht die Schülerinnen und Schüler, die antidemokratische Zwischenfälle ausgelöst haben, sondern auch Lehrkräfte, Eltern oder andere schulnahe Personen. Extremismus verbreitet sich leider gesamtgesellschaftlich. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Lehrkräfte häufig nicht wissen, wie sie in bestimmten Situationen reagieren sollen. Entscheidend ist, dass wir als Gesellschaft anerkennen, dass es sich bei solchen Zwischenfällen um schwerwiegende Probleme handelt und dass diese systematisch bearbeitet werden müssen. Eine Schüsselrolle kommt in diesem Zusammenhang den Schulleitungen zu. Aber diese sind auf diese Aufgabe nicht systematisch vorbereitet.

„Lehrkräfte sollten sich bewusst werden, dass eine pädagogische Reaktion nicht alleine auf das Unterrichtsgeschehen bezogen ist. Die meisten antidemokratischen Vorfälle ereignen sich in Übergangsbereichen, auf dem Schulweg, in der Pause oder im Klassenchat.“

Prof. Dr. Anja Besand

Redaktion: Wie können Lehrkräfte reagieren, wenn sie an ihren Schulen extremistische Zwischenfälle beobachten? 

Besand: Wichtig ist, dass Lehrkräfte überhaupt reagieren und antidemokratischen Vorfällen nicht gleichgültig gegenüberstehen. Eine indifferente Haltung normalisiert solche Vorfälle. Gleichzeitig ist es wichtig, die Opfer nicht zu übersehen und diese zu schützen. Lehrkräfte sollten sich zudem bewusst werden, dass eine pädagogische Reaktion nicht alleine auf das Unterrichtsgeschehen bezogen ist. Häufig besteht ein Umgang zunächst darin, ein  Gespräch zu führen. Viele Lehrkräfte haben jedoch ihren Unterricht im Kopf und suchen nach Themen oder Fragestellungen, die in diesem Rahmen angesprochen werden können. Die meisten antidemokratischen Vorfälle ereignen sich jedoch in Übergangsbereichen, auf dem Schulweg, in der Pause oder im Klassenchat.

Redaktion: Sind Lehrkräfte für das Lösen solcher Konflikte außerhalb des Unterrichtsgeschehens überhaupt zuständig?

Besand: Auf jeden Fall! Diese Aufgabe kann nicht nur von an der Schule tätigen Fachkräften für Sozialarbeit oder gar von den Eltern übernommen werden. Zumal antidemokratische Haltungen nicht selten auf die Eltern zurückgehen und Schulsozialkräfte auf Herausforderungen wie diese nicht immer vorbereitet sind. Extremismus ist zudem kein Problem, das sich von allein regelt, sobald die Schülerinnen und Schüler älter werden. Der Bildungsauftrag von Schule ist klar in der Landesverfassung formuliert und gilt daher insbesondere für Lehrkräfte. Im Mittelpunkt steht demnach die Erziehung zu mündigen, demokratiekompetenten, pluralistischen und sozialen Menschen.

Redaktion: Sie sprachen gerade bereits die Rolle der Eltern an. Inwieweit können und sollten Schulen und Lehrkräfte auch auf die Eltern zugehen? 

Besand: Lehrkräfte können und sollten auf Eltern zugehen. Dieser Schritt lohnt sich. Gleichzeitig gilt es dabei zu beachten, dass wir als Gesellschaft nicht nur Forderungen an Lehrkräfte stellen, sondern auch die Bedingungen schaffen, die Lehrkräfte benötigen, um solche Aufgaben zu erfüllen. In Sachsen fordere ich seit langem, dass Lehrkräften Zeit zur Verfügung steht, um sich mit der Thematisierung und der Bearbeitung von Konflikten, die sich im schulischen Kontext entwickeln, auseinanderzusetzen. Diese Forderung ist schwer durchzusetzen, aber absolut notwendig, wenn wir erwarten, dass Probleme dieser Tragweite schulisch bearbeitet werden.

„Schulen sind einer der wenigen Orte, an dem Menschen aus verschiedenen sozialen Räumen und medialen Wirklichkeiten noch zusammenkommen können. Das ist eine Chance, die wir als Gesellschaft nutzen sollten, aber wir müssen Schulen auch so ausstatten, dass sie diese Aufgabe übernehmen können.“

Prof. Dr. Anja Besand

Redaktion: Wie politisch dürfen Lehrkräfte im Schulalltag überhaupt sein?

Besand: Das ist eine Frage, die in den letzten Jahren immer wieder gestellt wurde. An der Schule darf ja keine Werbung für bestimmte politische Parteien gemacht werden. Seit die AfD mit ihrer vermeintlich neutralitätssichernden Meldeplattform Lehrkräfte aufgeschreckt hat, wurde in dieser Hinsicht zum Glück einiges geklärt. Der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung formuliert eindeutig, dass politische Bildung nicht neutral ist. Sie ist überparteilich, aber bekennt sich zu den Werten des Grundgesetzes. Wenn diese Werte in Frage gestellt werden, dann muss widersprochen werden, und zwar deutlich. Wir nennen das Grundrechtsklarheit.

Redaktion: Welche Rolle spielen bei der Verbreitung von extremistischem Gedankengut die Digitalisierung und die oft mangelnde Medienkompetenz, die ein zentraler Auftrag von Schule ist?

Besand: Die Verbreitungskanäle sind durchaus vielfältig. Das geht von Mund zu Mund, über informelle Kommunikationskanäle, auf dem Schulweg, im Klassen-Chat über Social Media, aber auch über Schmierereien oder Aufkleber auf Hauswänden, Straßenschildern, Klowänden, Tischen. Extremismus ist überall, man muss nur die Augen offen halten.

Der mediale Wandel macht es uns aber gesellschaftlich nicht leichter, uns darüber zu verständigen, was der Fall ist. Die Öffentlichkeit ist fragmentiert, und das wird sich auch nicht zurückdrehen lassen. Wir müssen deshalb gut darüber nachdenken, welche Räume uns gesellschaftlich noch zur Verfügung stehen, in denen unterschiedliche Menschen aus verschiedenen sozialen Räumen und medialen Wirklichkeiten zusammenkommen können, um sich auszutauschen. Die Schule ist ein solcher Raum. Viele andere gibt es nicht mehr. Kein Wunder also, dass an Schulen sämtliche gesellschaftlichen Konflikte sichtbar werden. Das ist eine Chance, die wir als Gesellschaft nutzen sollten, aber wir müssen Schulen auch so ausstatten, dass sie diese Aufgabe übernehmen können.

„Schulleiterinnen und Schulleiter können dafür Sorge tragen, dass innerhalb des Kollegiums Klarheit darüber besteht, wo rote Linien sind, wann gehandelt werden muss und zum Teil auch wie.“

Prof. Dr. Anja Besand

Redaktion: Welche Aufgaben können Schulleitungen dabei übernehmen, die Sie in einer Schüsselrolle im Umgang mit Extremismus sehen?

Besand: Schulleitungen kommt die Aufgabe zu, Lehrkräften den Rücken zu stärken, wenn diese mit Herausforderungen wie den hier angesprochenen konfrontiert sind. Schulleiterinnen und Schulleiter können nicht nur externe Unterstützung organisieren, sondern auch dafür Sorge tragen, dass innerhalb des Kollegiums Klarheit darüber besteht, wo rote Linien sind, wann gehandelt werden muss und zum Teil auch wie. Im Umgang mit Extremismus sind eher systemische Bearbeitungsstrategien denn Einzelhandeln gefragt. Hier ist die Schulleitung in der Rolle der Organisatorin oder des Organisators gefragt. So kann zum Beispiel im Kollegium Raum dafür geschaffen werden, gemeinsam Fälle zu besprechen. Mit dieser kollegialen Fallberatung kann schon viel erreicht werden, und wir haben auch mit spezifischen Coachings für dieses Handlungsfeld gute Erfahrungen gemacht.

Redaktion: Inwieweit kann das Lehren und Lernen von politischer Bildung in der Schule extremistischen Tendenzen entgegenwirken?

Besand: Ich wehre mich immer ein bisschen dagegen, politische Bildung als Präventionsinstrument zu verstehen. Politische Bildung ist keine Feuerwehr und sie ist auch kein sicherheitspolitisches Instrument, das für Ruhe und Frieden sorgen kann und soll. Aufgabe politischer Bildung ist es, Menschen bei der Entwicklung selbstbestimmter kritischer Urteilsfähigkeit zu unterstützen. Das sorgt nicht für Ruhe, sondern für Konflikt. Politische Bildung macht Menschen stark für diese Konflikte und hilft ihnen, Strategien zu entwickeln, gewaltfrei damit umzugehen. Deshalb ist politische Bildung wichtig.

Redaktion: Die Potsdamer Bildungsforscherin Nina Kolleck fordert ein Pflichtmodul Extremismusprävention im Lehramtsstudium. Wie können schon Studierende auf antidemokratische Vorfälle in den Schulen vorbereitet werden?

Besand: In vielen Bundesländern gibt es Initiativen in dieser Hinsicht. In Sachsen beginnen wir nun nach jahrelanger Vorbereitung in diesem Herbst mit einem Pflichtmodul zur demokratischen Schulentwicklung für alle Lehramtsstudierenden, unabhängig von ihrer Fächerwahl. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, dieses einzurichten. Das Modul wird wissenschaftlich begleitet, um sichtbar zu machen, was dabei wie gut funktioniert. Das Pflichtmodul sieht vor, dass die Studierenden zunächst ihre eigenen Erfahrungen mit der Themenstellung reflektieren. Anschließend werden sie fallorientiert arbeiten. Das heißt, dass die Studierenden in der Auseinandersetzung mit konkreten Fällen einüben, über Handlungsstrategien nachzudenken. Nach unserer Einschätzung hilft das sehr gut und wird als sehr instruktiv wahrgenommen.

Redaktion: Frau Professorin Besand, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Anja Besand ist Professorin für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden und Direktorin der John Dewey Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie.

  • Behrens, Rico/Besand, Anja/Breuer, Stefan (2021): Politische Bildung in reaktionären Zeiten - Plädoyer für eine standhafte Schule, Frankfurt. Titel als kostenfreies E-Book zugänglich.
  • Besand, Anja (2020): Politische Bildung unter Druck - Zum Umgang mit Populismus in der Institution Schule, APuZ 14-15/2020, S. 4-9.
  • Besand, Anja (2019): Vom Nutzen (neuerer) Populismusforschung für die politische Bildung Sachsen als Labor, in: GWP–Gesellschaft (Hrsg.): Wirtschaft. Politik 3/2019, Leseprobe. 
  • Besand, Anja (2019): Hoffnung und Ihre Losigkeit - Politische Bildung im Zeitalter der Illusionskrise, in: Dies, Overwien, Bern/Zorn, Peter (Hrsg): Politische Bildung mit Gefühl, Bonn 2019, S. 173-187.