„Du Jude!“ – Was tun bei Antisemitismus im Klassenzimmer?

Antisemitismus ist nicht immer offensichtlich. Wie Lehrer:innen ihn erkennen und ihm begegnen können.

Seit Israels militärischer Reaktion auf den brutalen Angriff der Hamas hat Antisemitismus auch an vielen Schulen zugenommen. Prof. Nicola Brauch und Dr. Marc Grimm forschen dazu, wie Lehrkräfte bei Antisemitismus angemessen intervenieren können.

Redaktion: Frau Brauch, Herr Grimm, im Zuge des Angriffs der Hamas auf Israel und des darauffolgenden Kriegs im Gazastreifen flammt Antisemitismus in Deutschland und der Welt wieder auf. Nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance ist Antisemitismus „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden (…)". Mit welchen Stereotypen werden Juden heute wieder konfrontiert?

Prof. Dr. Nicola Brauch: Zu den Stereotypen des Antisemitismus gehört zum Beispiel die Verknüpfung von Judentum mit Geiz und Geld oder Juden als Menschen in der Opferrolle. Diese manifestieren sich in den Bildungsmedien oft in der Auswahl von Bildern und Symbolen, wie beispielsweise dem Plakat zur Münchner Ausstellung „Der ewige Jude“ von 1937. Diese Bilder haben das Potential, dass Schülerinnen und Schüler Stereotype verinnerlichen – insbesondere, wenn die Arbeitsaufträge es beim Beschreiben der Bilder belassen und den Kontext nicht dekonstruieren und damit verständlich machen und ein kritischer Umgang damit eingeübt wird.

Dr. Marc Grimm: Stereotype tauchen zahlreich und an unterschiedlichsten Stellen auf – auch dort, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Eine deutsch-israelische Schulbuchkommission, die sich zum Thema antisemitische Stereotype deutsche Schulbücher angeguckt hat, kam etwa zu dem Ergebnis, dass Israel in den Büchern nicht als pluralistische, multireligiöse Gemeinschaft und Kultur präsentiert wird, sondern weitgehend auf den Hintergrund des politischen Weltkonflikts reduziert wird.

Redaktion: Wie und wo werden Schülerinnen und Schüler heute mit Antisemitismus konfrontiert?

Grimm: Antisemitismus ist ein flexibles Phänomen, das anschlussfähig ist an verschiedene kulturelle und politische Strömungen wie Nationalismus, Rechtsextremismus, aber auch Liberalismus oder Sozialismus. In sozialen Netzwerken, wo die Jugendlichen häufig Beiträge konsumieren und reproduzieren, sehen wir immer mehr offenen Antisemitismus, oft – aber nicht immer – bezogen auf Israel. Vieles spielt sich dabei in Form von Memes ab. Das ist eine bewusste Strategie, um antisemitische, aber auch allgemeine menschenfeindliche Aussagen humoristisch so zu verpacken, dass die Grenzen verwischen zu dem, was noch sagbar ist. Es ist also gar nicht mehr klar, ob die Person meint, was sie da postet. Das wird durchaus strategisch eingesetzt von Menschen, denen daran liegt, antisemitische Stereotypen zu verbreiten.

Redaktion: Welche Chancen haben pädagogische Fachkräfte hier, solchen Eindrücken aus Social Media entgegenzuwirken?

Brauch: Heranwachsende haben noch kein geschlossenes antisemitisches Weltbild ausgeprägt, sondern sie ahmen nach, was sie vorfinden. Im Gegensatz zu Erwachsenen mit einem gefestigten Weltbild kann man bei Heranwachsenden viel mehr bewirken, man kann sensibilisieren, Empathie schulen und das Bewusstsein schärfen. Umso wichtiger ist die pädagogische Verantwortung, hier einzugreifen.

Grimm: Wir wissen aus der Jugendforschung, dass die Jugendlichen Vorurteile haben – selbst diejenigen, die sich als vorurteilsfrei begreifen. Wir wissen aus der Forschung aber auch, dass Jugendliche keine Vorurteile haben möchten. Hier kann man als Eltern oder pädagogische Fachkraft ansetzen und den Kindern und Jugendlichen dabei helfen, antisemitische Stereotypen zu identifizieren und zu verstehen, woher diese kommen. Es ist entscheidend, den Heranwachsenden Handwerkszeug bereitzustellen, damit sie solche Stereotypen im Bereich des Antisemitismus, aber auch in anderen Erscheinungsformen, wie beispielsweise Frauenfeindlichkeit, Rassismus oder  Verschwörungstheorien einordnen können.

Redaktion: Welche Argumentationsmuster werden zur Untermauerung von antisemitischen Positionen benutzt?

Grimm: Mein Eindruck ist, dass zurzeit sehr stark mit plakativen Slogans gearbeitet wird, wenn es um die Frage der Staatlichkeit Israels geht. Da ist dann von einem Apartheidstaat oder einem Kolonialstaat die Rede. Damit möchte man Israel in ein Begriffsraster zwängen, um es zu verurteilen.
Dabei ist Israel historisch gesehen, wenn überhaupt, ein antikolonialer Staat, der im Kampf gegen das britische Empire entstanden ist. Das Entscheidende ist aber, dass die allermeisten Schülerinnen und Schüler, die sich heute antisemitisch etwa in den sozialen Netzwerken äußern, in den seltensten Fällen ihre Positionen argumentativ untermauern können, weil das Wissen hierzu relativ gering ist. Aus meiner Erfahrung ist das Interesse an einer Auseinandersetzung mit Fakten auch kaum vorhanden.

Redaktion: Warum positionieren sich manche Schülerinnen und Schüler beim Thema Israel dann so einseitig und deutlich?

Grimm: Sich politisch zu positionieren gehört ein Stück weit zum Verständnis aufgeklärter und an Umweltfragen und Menschenrechten orientierter Schülerinnen und Schüler. Und hier hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten leider ein Bild verfestigt, das man – wenn man zu dieser Gruppe gehören will – für die Palästinenser oder eigentlich gegen Israel Position beziehen muss. Das wird nur mit Behauptungen begründet, die historisch nicht zu halten sind. Aktuell lässt sich leider kein Innehalten, sondern eine Radikalisierung beobachten, wie zuletzt bei Greta Thunberg, die die Zerschlagung des Zionismus fordert (“Crush Zionism“).

Brauch: Dazu fällt mir noch ein Bericht von einer kürzlich in Berlin organisierten anti-israelischen Demonstration von jungen Studierenden ein, bei der eine der Studierenden von einem Journalisten angesprochen wurde und dieser ihr die historischen Fakten des Teilungsplans der Uno erklärte. Ihre Antwort war: „Ich bin hier zum Demonstrieren und nicht zum Diskutieren.“ Dieser Satz belegt für mich das, was mein Kollege Marc Grimm gerade gesagt hat: Bei dem Thema spielt Irrationalität und Emotionalität eine große Rolle.

Redaktion: Wie gehen Lehrkräfte mit diesen aufgeheizten, irrationalen Diskussionen um?

Grimm: Viele Studierende im Praxissemester berichten mir, dass Lehrkräfte im Allgemeinen Themen und Diskussionen meiden, die emotional aufgeladen sind. Israel gehört hier zu den weniger beliebten Unterrichtsthemen, weil häufig eine emotionalisierte Debatte erwartet wird.
Dabei ist es besonders wichtig, gerade bei diesem Thema von der emotionalen auf eine Sachebene zu wechseln, Multiperspektivität und überhaupt die Fähigkeit bei Schülerinnen und Schülern zu entwickeln, in den Diskurs zu gehen. Das wird verhindert durch Emotionalität und wenn Lehrkräfte dem Thema ausweichen.

Redaktion: Wie müsste man denn stattdessen als Lehrkraft handeln? Wenn das Wort „Jude“ zum Beispiel als Schimpfwort benutzt wird?

Grimm: Das Wort Jude trägt ganz bestimmte Bedeutungen in sich. Ein Sportlehrer hat vor Kurzem von einer Szene berichtet, in der jemand etwas zu trinken dabei hatte und die Frage im Raum stand, ob derjenige es teilt. Da wurde dann gesagt: „Gib mir auch was ab, du Jude!“ Das Wort „Jude“ wird also verwendet im Sinne von „Geizhals“, also einem sehr spezifischen antisemitischen Stereotyp. Wenn sich so ein Schimpfwort erst einmal etabliert, übernehmen das jüngere Schülerinnen und Schüler auch ungefragt. Hier muss also dringend eine Intervention erfolgen, es muss thematisiert werden – und zwar nicht einfach als Verbot, sondern die Verwendung des Wortes Jude als Schimpfwort muss thematisiert werden. Das bedeutet, auch im Sinne eines Perspektivwechsels und der Empathiebildung zu thematisieren, wie das wohl für Jüdinnen und Juden ist, wenn sie so etwas hören.

Brauch: Die Fähigkeit zur Empathie ist hier das entscheidende Stichwort. Wir wissen aus Interviews mit jüdischen Schülerinnen und Schülern, dass sie sich selbst gar nicht mehr „Jude“ nennen möchten, weil der Begriff derart negativ konnotiert ist. Wir müssen Schülerinnen und Schüler dazu bringen, die Situation einmal von der anderen Seite zu sehen.

Redaktion: Wie können Lehrkräfte darauf reagieren, wenn ein Schüler den Staat Israel infrage stellt.

Grimm: Das ist sehr situations- und kontextabhängig. Ist in der Situation, in der so eine Äußerung fällt, die Möglichkeit und der Raum für eine sachliche Diskussion gegeben? Denn die ist notwendig, um Schülerinnen und Schüler dahin zu bringen, den Nahost-Konflikt zu verstehen und zu beurteilen. Das bedeutet, man muss über die Geschichte reden. Nicht allumfassend, aber viele der genutzten plakativen antiisraelischen Slogans lassen sich mit wenigen Schlaglichtern auf die israelische Geschichte aushebeln. Sie können Irritationen und ein Nachdenken auslösen. Wichtig ist aber, dass man zuvor die emotionale Situation klärt und ermittelt, wie tief eine Jugendliche oder ein Jugendlicher in seinen Narrativen gefangen ist, ob sie oder er zugänglich ist für eine sachliche Diskussion. Wenn das nicht der Fall ist und das zum Beispiel im Unterricht passiert, bleibt einem als Lehrkraft manchmal nur die Option, zunächst die Klasse zu schützen, im Zweifel mit Repressionen solche Äußerungen auch zu unterbinden, um einen normalen Unterricht sicherstellen zu können. Aber um nachhaltig etwas zu bewirken, müssen die Schülerinnen und Schüler eine Ahnung von der Komplexität des Themas bekommen, sich mit der Geschichte auseinandersetzen und verstehen, dass es nicht die eine einfache Position dazu gibt.

Brauch: Ein gutes, wenn auch nicht immer trennscharfes Werkzeug der antisemitismus-kritischen Pädagogik ist der sogenannte 3-D-Test des israelischen Politikers Natan Sharansky (2004), der den Schülerinnen und Schülern dabei helfen kann, legitime Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden. Als Kriterien werden hier doppelte Standards genannt, also die Frage, ob in einer kritischen Äußerung an die israelische Regierung andere Standards angelegt werden als an andere Staaten. Des Weiteren geht es um die Dämonisierung Israels, wenn also Handlungen der israelischen Regierung mit antisemitischen Stereotypen beschrieben werden oder Israel als „Nazi-Staat“ bezeichnet wird . Das dritte Kriterium ist die Delegitimation, also wenn man dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht.

Redaktion: Wie sieht das Argumentationstraining für den Umgang mit Antisemitismus aus, das Sie im Rahmen des Projekts EMPATHIA erforschen und entwickeln?

Brauch: Wir wollen den Zielgruppen – Staatsbedienstete im Schul- und Polizeidienst – durch das Argumentationstraining kognitives Wissen, aber auch professionelles Handlungswissen und Empathie vermitteln, weil eine Beschäftigung damit in den aktuellen Bildungsgängen meist fehlt. Das soll sie dazu befähigen, „sprachfähig“ zu werden – also etwa Lehrkräften die Ängste nehmen, wenn es um das Thema Antisemitismus geht, weil sie über Hintergrundwissen verfügen und wissen, wie sie reagieren können. Wir befinden uns da in einem Prozess der Grundlagenforschung, weil wir sehr wenig darüber wissen, welches Handeln wirklich bei Schülerinnen und Schülern oder dem polizeilichen Gegenüber wirkt. Das Zweite, was wir konkret entwickeln, ist eine Interventionsstudie auf Basis eines authentischen Lernszenarios. Hier geht es um einen runden Tisch im Anschluss an eine antisemitische Demonstration in einer fiktiven Stadt, aber mit sehr realen Perspektiven, die an der Schnittstelle Zivilgesellschaft und Verwaltung aufeinanderprallen. Dort soll die Sprachbefähigung, die wir mit den Teilnehmenden eingeübt haben, dann in einem realen Szenario angewendet werden. Das bereiten wir derzeit vor. Wir entwickeln zudem ein Schülerlabor, in dem wir ein Argumentationstraining für Schülerinnen und Schüler entwickeln und evaluieren.

Grimm: Die große Herausforderung bei unserer Arbeit ist es, diese historische Tiefe des Themas und die Breite der antisemitischen Erscheinungsformen – von Memes auf Social Media bis zu Kommentaren im Gangsta-Rap – zu erfassen und daraus ein konzentriertes Basiswissen zu gewinnen, das es Lehrkräften erlaubt, Antisemitismus zu erkennen und entsprechend auf ihn zu reagieren.

Redaktion: Frau Professorin Brauch, Herr Doktor Grimm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Prof. Dr. Nicola Brauch ist Geschichtsdidaktikerin an der Ruhr-Universität Bochum und Leiterin des Antisemitismus-Forschungsverbunds EMPATHIA.

Zur Person

Dr. Marc Grimm vertritt aktuell die Professur für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal.