Warum Informatikunterricht in die Grundschule gehört

Dr. Katerina Tsarava erläutert im Interview welche Vorteile es für Kinder und insbesondere für Mädchen hat, wenn Informatikkompetenzen schon in der Grundschule vermittelt werden.

Junge Menschen nutzen digitale Technologien in ihrem Alltag ganz selbstverständlich und intuitiv. Um diese Technologien jedoch reflektiert anwenden zu können, sind entsprechende Kompetenzen unverzichtbar. Um diese zu stärken, sollten bereits Grundschülerinnen und Grundschüler informatische Konzepte verstehen, sagt Dr. Katerina Tsarava und beklagt eine insgesamt unzureichende Informatikbildung an Schulen.

Redaktion: Frau Tsarava, warum sollten sich Kinder schon in der Grundschule mit Informatik beschäftigen?

Dr. Katerina Tsarava: Kinder wachsen heutzutage in einer Welt auf, in der sie von klein auf von Smartphones, Tablets, Spielzeugrobotern, Saugrobotern oder Chatbots umgeben sind. Die meisten Kinder nutzen technologische Produkte somit bereits vor ihrer Einschulung. Nur in den wenigsten Fällen können sie dabei jedoch einen unmittelbaren Bezug zur Informatik herstellen. Das Ziel sollte nicht sein, Kinder technische Anwendungen unhinterfragt konsumieren zu lassen, vielmehr sollten sie als informierte Nutzerinnen und Nutzer agieren und die Grundlagen dieser Technologien verstehen können. Es ist daher nur folgerichtig, mit Beginn der Nutzung auch mit der Förderung digitaler Kompetenzen zu beginnen. Auf diese Weise erlernen Kinder einen sicheren und ethischen Umgang mit neuen Technologien. Das logische Denken, das sie dafür benötigen, hilft ihnen später dabei, sich in einer technologisch rasch weiterentwickelnden Welt zurechtzufinden.

Redaktion: Statistiken zeigen, dass Mädchen nach wie vor seltener an freiwilligen Informatikkursen teilnehmen als Jungen. Wie können Mädchen von einem verpflichtenden Informatikunterricht in der Grundschule profitieren?

Tsarava: Die Forschung zeigt, dass es insbesondere für Mädchen wichtig ist, möglichst früh mit der Informatik in Berührung zu kommen, um gesellschaftliche Stereotype abzubauen. Bei jüngeren Kindern sind geschlechtsbezogene Rollenbilder noch nicht festgelegt. Der Stereotyp des matheaffinen Jungen, der angeblich besser programmieren kann als Mädchen, ist Kindern in der Grundschule noch fremd. Daher ist es entscheidend, Kinder früh an das Programmieren heranzuführen und sie so ein positives Selbstkonzept entwickeln zu lassen. Mit dem akademischen Selbstkonzept beschreibt die Forschung das Vertrauen von Schülerinnen und Schüler in ihre eigenen Fähigkeiten. Ein positives Selbstkonzept ist ein wichtiger Prädiktor für die Leistung: Nur wenn Schülerinnen und Schüler Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben, in einem Fach gute Leistungen zu erbringen, werden sie dies auch versuchen.

„Computational Thinking gilt als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts, vergleichbar mit Lese-, Schreib- und Rechenkenntnissen.“

Dr. Katerina Tsarava

Redaktion: Im „OECD-Lernkompass 2023“ werden datenbezogene und digitale Literalität zu den Lerngrundlagen gewählt. Warum ist ein Leben ohne dieses Wissen heute nicht mehr vorstellbar?

Tsarava: Das Verständnis für informatische Konzepte ist neben den praktischen Aspekten auch die Grundlage für die in Zukunft immer wichtiger werdende Problemlösekompetenz. Um Probleme effektiv und effizient zu lösen, sind Fähigkeiten, die sich auf Prozesse wie algorithmisches Denken, konditionale Logik, Abstraktion oder Mustererkennung stützen, unabdingbar. Zusammengefasst werden all diese logischen Fähigkeiten unter dem Stichwort des Computational Thinkings. Im Deutschen spricht man von informatischem Denken, das als Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts gilt, vergleichbar mit Lese-, Schreib- und Rechenkenntnissen, die ebenfalls in der Grundschule erworben werden. Die Bedeutung des informatischen Denkens spiegelt sich auch in der Anerkennung des PISA-Rahmenprogramms für den Bereich Mathematik wider. Wichtig zu betonen ist, dass dieses informatische Denken grundsätzlich für alle Arten von Problemen gilt, gleichgültig, ob diese mithilfe eines Computers gelöst werden oder nicht.

Redaktion: Wie steht es um den Informatikunterricht an deutschen Schulen?

Tsarava: Fast alle europäischen Länder haben ihre Bemühungen um eine Grundbildung in informatischem Denken in den letzten Jahren verstärkt. Eine Vergleichsstudie von Stifterverband und Heinz Nixdorf Stiftung, die dieses Jahr erschienen ist, kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass die informatische Grundbildung in Deutschland hinter der Ausbildung in anderen europäischen Ländern zurückbleibt. Während das informatische Denken und Programmieren in den meisten Ländern Europas inzwischen fest in den Lehrplänen verankert ist, wird es in vielen deutschen Bundesländern lediglich als Wahlfach angeboten. Im Primarbereich waren Estland und Großbritannien in Europa im Jahr 2012 Vorreiter, seitdem sind 15 EU-Länder, darunter Griechenland, Polen, Lettland und Serbien, nachgezogen. In Deutschland haben Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen den Informatikunterricht zumindest durchgehend ab der 5. Klasse integriert. In anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist der Informatikunterricht lediglich auf ein oder zwei Jahre in der Sekundarstufe beschränkt.

Kritisch muss man jedoch anmerken, dass in etwa zwei Drittel der europäischen Bildungssystemen der angebotene Informatikunterricht von Lehrkräften aus anderen Fachgebieten übernommen wird. Diese verfügen häufig nicht über das nötige Wissen oder die Zeit, um Informatik effektiv zu unterrichten. Für das Bildungssystem ist es daher entscheidend, künftig gezielt Informatiklehrkräfte an die Schulen zu holen und diesen entsprechende Fähigkeiten mitzugeben, um Schülerinnen und Schüler für dieses Fachgebiet zu begeistern.

Redaktion: Wie wichtig ist Informatikunterricht für den späteren Beruf?

Tsarava: Nicht jedes Kind wird später ein Informatikstudium beginnen. Ziel eines Informatikunterrichts in der Grundschule ist es daher auch nicht, aus jedem Kind eine Programmiererin oder einen Programmierer zu machen. Der Umgang mit modernen digitalen Geräten und die Informationsverarbeitung über digitale Medien nehmen jedoch in vielen Berufen einen so hohen Stellenwert ein, dass diese für jedes Kind essenziell sind. Zudem ist es wichtig, dass sich Schülerinnen und Schüler über das Potenzial des Programmierens in verschiedenen Lebensbereichen bewusst werden. Häufig besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was Schülerinnen und Schüler in der Schule lernen, und dem, wie sie Informatik im Alltag wahrnehmen. Vielen Schülerinnen und Schülern ist nicht bewusst, in welcher Verbindung Informatik zu anderen Fächern und ihren Interessen steht. Programmierkenntnisse und technische Errungenschaften können auch in der Psychologie, in den Wirtschafts- und Umweltwissenschaften oder vielen anderen Berufen als Werkzeug eingesetzt werden. Beispielsweise für Simulationen, die dabei helfen, die Zusammenhänge von Umweltphänomenen besser zu verstehen und als Entscheidungsgrundlage dienen. Daher ist das Erlernen grundlegender Konzepte des informatischen Denkens für junge Menschen, ungeachtet ihrer zukünftigen Berufswahl, wichtig und sollte nicht als freiwilliges Fach angeboten werden.

Redaktion: Welche Inhalte sollte der Informatikunterricht an Schulen vermitteln, um Kinder auf die Zukunft vorzubereiten?

Tsarava: Allgemeinbildender Informatikunterricht sollte nicht nur Grundkenntnisse im Programmieren vermitteln. Vielmehr sollte er Kinder in die Lage versetzen, informatische Phänomene ihres Alltags zu entdecken und diese erklären zu können – vom Smartphone über Messenger-Apps bis hin zu Saugrobotern und versteckten algorithmischen Entscheidungen hinter  YouTube-Feeds. Auch die ethische Komponente sollte eine zentrale Rolle spielen. Dazu gehört der Umgang mit künstlicher Intelligenz ebenso wie das Erkennen von Fake News. Konkrete Empfehlungen für einen gelingenden Kompetenzerwerb in Informatik im Primarbereich hat die Gesellschaft für Informatik im Jahr 2019 herausgegeben. Diese Empfehlungen sollten in einen integrierten und gut strukturierten Lehrplan für die Grundschule umgesetzt und regelmäßig aktualisiert werden, um auch neue technologische Entwicklungen abzudecken.

„Die Vermittlung von informatischem Denken auf Anfängerniveau hängt nicht von digitalen Geräten ab, sondern funktioniert auch unplugged.“

Dr. Katerina Tsarava

Redaktion: Wie kann Informatikunterricht in der Grundschule konkret aussehen?  

Tsarava: Für den Unterricht in der Grundschule gibt es viele gut gestaltete und wissenschaftlich untermauerte Lernumgebungen, die Kindern informatisches Denken auf spielerische Weise vermitteln. Dabei können Kinder ihre eigenen Geschichten, Spiele, Animationen oder Kunstwerke entwerfen, mit diesen interagieren oder diese manipulieren. Dazu gehören Lernumgebungen wie Scratch, Snap! oder Open Roberta. Abstrakte Konzepte werden dabei visuell vereinfacht als bunte Blöcke dargestellt. Auf diese Weise senken solche Lernumgebungen die Schwelle für das Verständnis der Schülerinnen und Schüler. Mit Scratch können Schülerinnen und Schüler zum Beispiel mithilfe von farbigen Codeblöcken eigene Geschichten oder Spiele programmieren, indem sie sie wie Legosteine sinnvoll miteinander verbinden. In ähnlicher Weise ermöglichen zum Beispiel Lernroboter, Probleme algorithmisch zu lösen. Kinder können in blockbasierten Programmierumgebungen wie Open Roberta ihren Code spielerisch testen, indem sie die Roboter ihre Algorithmen ausführen lassen. Solche Lernumgebungen werden in vielen Ländern bereits in der Grundschule eingesetzt, und es gibt viele Lehrmaterialien, die auch in deutscher Sprache online verfügbar sind.

Die altersgerechte und spielerische Einbettung von informatischem Denken in der Grundschule hat zudem weitere positive Effekte für Mädchen. Studien konnten zeigen, dass Online-Spiele die Wahrnehmung von Mädchen in Bezug auf eine mögliche Karriere in der Informatik verbessern. Das gilt insbesondere für kollaborative Spiele, Spiele mit einer weiblichen Hauptfigur oder solchen, in denen die Spielerinnen die Spielfiguren individuell anpassen können.

Redaktion: Eltern äußern regelmäßig Bedenken, wenn Kinder in den Schulen schon früh an digitale Medien herangeführt werden. Wie begegnen Sie diesen Einwänden?

Tsarava: Die meisten Kinder nutzen digitale Medien bereits vor der Einschulung, sodass die Schule hier nicht vorweggreift. Darüber hinaus hängt die Vermittlung von informatischem Denken auf Anfängerniveau nicht unbedingt von digitalen Geräten ab, sie funktioniert auch unplugged, das heißt ohne die Verwendung digitaler Technologien. Das liegt vor allem daran, dass es sich beim informatischen Denken um eine kognitive Fähigkeit handelt, die weit über das Programmieren hinausgeht und eine Reihe von Problemlösungsansätzen umfasst, darunter das algorithmische und logische Denken sowie die Abstraktion. Statt diese Konzepte mit Hilfe einer konkreten Programmiersprache einzuführen – die sich zudem schnell ändern kann – können Kinder auch spielerisch an das informatische Denken und Programmieren herangeführt werden.

Für diese Unplugged-Aktivitäten gibt es mehrere Beispiele. Eines davon ist das Brettspiel Schildkröten und Krabben, das wir für das Hector Informatikcurriculum konzipiert haben und das sich an dem von Seymour Papert entwickelten Programmierroboter Logo Turtle und der Programmiersprache Logo orientiert. Ziel des Spiels ist es, mit Krabben- und Schildkröten-Spielfiguren aus Holz über ein Spielfeld zu einer Schatztruhe zu gelangen. Dabei schränken die Spielregeln die Bewegungen der Spielfiguren ein, zum Beispiel kann sich die Krabbe nur seitwärts und die Schildkröte nur vor- und rückwärts bewegen. Auf der anderen Seite erleichtern bestimmte Spielkarten das Vorankommen. Unter anderem gibt es Karten, die es erlauben, Schrittfolgen zu wiederholen – in Programmiersprache würde man von Schleifen sprechen. Während des Spiels müssen sich die Kinder überlegen, wie sie ihre Spielzüge so kombinieren können, dass sie sich der Schatztruhe nähern. Diese sich wiederholenden Schritte sind nichts anderes als kleine Algorithmen.

Hector Informatikcurriculum

Das Hector Informatikcurriculum wurde entwickelt, um besonders begabte und hochbegabte Grundschülerinnen und -schüler an informatische Themen heranzuführen und das informatische Denken zu fördern. Bereits in der ersten Klasse setzt der Kurs „Planeten der Informatik“ an, Kindern ein Verständnis für algorithmische Konzepte zu vermitteln. Die beiden Folgekurse „Verstehen, wie Computer denken“ und „Kreativ am Computer“ bauen in der dritten und vierten Klasse auf die erlernten Inhalte auf. Hierbei kommt unter anderem das Brettspiel Schildkröten und Krabben zum Einsatz.

Ein weiterer Vorteil der spielerischen Herangehensweise liegt darin, dass körperliche Erfahrungen Kindern beim Lernen helfen –  in der Psychologie nennt man das "embodied cognition". So wie Kinder beim Rechnen ihre Finger zur Hilfe nehmen, können sie die logischen Abläufe beim Spielen auch körperlich nachvollziehen, was das Lernen fördert.

Redaktion: Frau Doktorin Tsarava, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Dr. Katerina Tsarava ist Mitentwicklerin des Hector Informatikcurriculums, einer Reihe von Informatikkursen, die sich an die Schülerinnen und Schüler der Hector Kinderakademien in Baden-Württemberg und Hessen richten. In ihrer Forschung untersucht sie vor allem, wie sich Programmierkenntnisse und informatisches Denken im Regelunterricht vermitteln lassen.

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