Wo Schulen in Deutschland wirklich Unterstützung brauchen
Prof. Dr. Marcel Helbig hat erstmals empirisch ermittelt, welche Grundschulen in Deutschland eine hohe Kinderarmutsquote haben – und hofft, dass seine Studie in der Verteilung von Unterstützungsgeldern berücksichtigt wird
Das Startchancenprogramm der Bundesregierung soll 4000 bedürftigen Schulen in Deutschland unter die Arme greifen. Doch wie verteilt man das Geld so, dass es wirklich dort ankommt, wo es gebraucht wird? Dazu hat Prof. Dr. Marcel Helbig geforscht. Seine Erkenntnisse erläutert er im Interview.
Redaktion: Herr Prof. Dr. Helbig, Sie haben in Ihrer neuen Studie erstmals Kinderarmutsquoten für die Grundschuleinzugsgebiete berechnet. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Prof. Dr. Marcel Helbig: Wir haben etwas gemacht, was es bundesweit so bisher gar nicht gab: Wir haben alle Grundschulen in Deutschland georeferenziert, sie also genau auf einer Karte verortet und dann die Schuleinzugsgebiete anhand von geometrischen Figuren um die Schulen definiert. Dann konnten wir mit Daten von der Bundesagentur für Arbeit, die Deutschland in Ein-Quadratmeter-Stücke unterteilen, herausfinden, wie viele Kinder in jedem dieser Abschnitte von Sozialleistungen wie Bürgergeld leben müssen. Wenn man diese beiden Datensätze übereinanderlegt, kann man etwa abschätzen, wie hoch die Armutsquoten an den jeweiligen Schulen sind. So konnten wir auch strukturell betrachten, wie hoch diese Quoten in den einzelnen Bundesländern sind.
Redaktion: Was haben Sie dabei herausgefunden? Gab es Ergebnisse, die Sie überrascht haben?
Helbig: Nur in geringen Teilen. Wir haben bereits einige Studien durchgeführt, die sich mit sozialer Segregation in Städten befassen, durch die ich einen ganz guten Überblick darüber habe, wie sich in Deutschland Armut verteilt. Wir haben gerade in Bayern und Baden-Württemberg eben nur ganz wenige Schulen, die eine sehr hohe Kinderarmutsquote aufweisen: Die Armutsquote in 80 Prozent aller bayerischen und baden-württembergischen Grundschulen liegt unter 10 Prozent. Auf der anderen Seite ballt sich diese Armut sehr stark im Ruhrgebiet, in einigen norddeutschen Städten, in ostdeutschen Plattenbaugebieten und im ostdeutschen ländlichen Raum.
Redaktion: Inwieweit entscheidet Armut über Bildungserfolg?
Helbig: Armut spielt eine ganz entscheidende Rolle, wenn es um den Erfolg von Bildung geht. Untersuchungen und Bildungsberichte haben immer wieder gezeigt, dass Schulen mit einem höheren Anteil armer Kinder schlechtere Bildungsergebnisse erzielen. Kinder, die solchen Grundschulen angehören, besuchen im Durchschnitt seltener ein Gymnasium, erzielen niedrigere Leistungswerte in Tests und erreichen im Schnitt niedrigere Bildungsabschlüsse.
Redaktion: Derzeit arbeiten Bund und Länder an einem Schlüssel, um das Geld im Rahmen des Startchancenprogramms zu verteilen, das bedürftige Schulen in Deutschland unterstützen soll. Wie sehen Sie diesen Prozess im Lichte Ihrer Erkenntnisse?
Helbig: Im Moment ist da sehr viel im Fluss, es gibt umfangreiche Verhandlungen. Zunächst hatte man sich auf den ursprünglichen Vorschlag der Länder geeinigt, das Geld mehr oder weniger nach der Zahl der Schülerinnen und Schüler zu verteilen. So sollten nur fünf Prozent an die bedürftigen Länder gehen, in denen die sozialen Herausforderungen höher sind, etwa an Bremen oder Nordrhein-Westfalen. Wenn es wirklich das Ziel ist, die Bildungschancen der am meisten benachteiligten Schülerinnen und Schüler zu stärken, dann ist das sehr kritisch zu sehen. Die Mittel können nur effizient eingesetzt werden, wenn ich sie auch an die Schulen adressiere, an denen die Armutsquoten tatsächlich besonders hoch sind. Der Königsteiner Schlüssel oder die Schülerinnen- und Schülerzahlverteilung nimmt das gar nicht in den Blick und verteilt das Geld mit der Gießkanne. Dass so am Ende etwa viel zu wenig Mittel für Schülerinnen und Schüler in Bremen da sind und viel zu viele für Bayern, liegt auf der Hand. Das hat man im Bundesbildungsministerium verstanden, sich von verschiedenen Expertinnen- und Expertenrunden beraten lassen und die Absicht gezeigt, stärker soziale Kriterien mit einzubeziehen. Da war etwa die Rede davon, 40 Prozent der Mittel über die durchschnittlichen Armutsquoten in den Ländern zu verteilen. Auch Migrantinnen- und Migrantenanteile an den Schulen und die Wirtschaftskraft der Länder sollen berücksichtigt werden, um die Gelder gerechter zu verteilen. Das sind alles Schritte in die richtige Richtung.
Königsteiner Schlüssel
Der Königsteiner Schlüssel ist ein Finanzierungsmodell für gemeinsame Projekte in Deutschland. Er bestimmt den Anteil, den jedes Bundesland basierend auf seinem Steueraufkommen und seiner Bevölkerungszahl leisten muss, wobei er sich zu zwei Dritteln nach dem Steueraufkommen und zu einem Drittel nach der Bevölkerungszahl berechnet. Der Schlüssel wird jährlich von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz neu berechnet und hat seine Ursprünge im Königsteiner Staatsabkommen von 1949. Dieses Abkommen wurde später im Grundgesetz verankert. Der Königsteiner Schlüssel wird nicht nur für die Finanzierung von Forschungseinrichtungen verwendet, sondern auch für andere Vereinbarungen und Gesetze, einschließlich der Verteilung von Asylbewerbern und der Finanzierung von Krankenhausstrukturen.
Redaktion: Gehen Ihnen diese Schritte weit genug?
Helbig: Das Problem dieser Verteilung ist nach wie vor, dass die angelegten Durchschnittswerte keine Aussage darüber treffen können, wie viele stark von Armut betroffene Schulen es im jeweiligen Land tatsächlich gibt. Das hängt mit der Verteilung innerhalb der einzelnen Bundesländer zusammen. Man kann das gut auf der Ebene einzelner Städte sehen. Wenn man sich beispielsweise Essen anschaut: Da müssten die Schulen im Norden besonders gefördert werden, weil dort die Armutsquoten im Schnitt sehr hoch sind. Südlich der A40, des Sozial-Äquators des Ruhrgebiets, hat man dagegen kaum eine Schule, die gefördert werden müsste.
Redaktion: Sie schreiben selbst am Ende der Studie, die politische Umsetzbarkeit sei „wenig realistisch”. Woran liegt das und wie könnte man sich dennoch einer fairen Verteilung annähern?
Helbig: Man sollte seinen Einfluss als Forscherin oder Forscher im politischen Raum nicht überschätzen, aber natürlich gibt es die Hoffnung, dass durch diese Studie nochmals das Problembewusstsein geschärft wird dafür, wo Armutslagen in Deutschland faktisch vorkommen. Im besten Fall fließen die Berechnungen aus dieser Studie zu einem gewissen Prozentsatz in die Entscheidungen über die Verteilung der Fördermittel ein. Das Problem ist letztlich der undurchsichtige Prozess des Bildungsföderalismus und der Kultusministerkonferenz, bei dem jedes Land das Beste für sich herausschlagen möchte. Die Solidarität zwischen den Ländern scheint mir vergleichsweise überschaubar zu sein.
Das größere Problem bei den Steuerungsfragen sehe ich allerdings darin, dass wir in Deutschland keine Tradition und auch offenbar nicht den politischen Willen haben, transparent mit unseren Bildungsdaten umzugehen, überhaupt diese zur Verfügung zu stellen. Das führt zu Folgeproblemen in vielen Bereichen, in denen uns andere Nationen inzwischen abhängen. Viele Länder haben in den vergangenen Jahren ein sogenanntes Bildungsregister aufgestellt, wo für jedes Kind, das sich im Bildungssystem bewegt, eine Identifikationsnummer vergeben wird, über die sich Bildungsverläufe der Kinder verfolgen lassen und Kompetenzdaten abgebildet werden – Beispiel Niederlande. Das muss natürlich alles datenschutztechnisch sauber ablaufen, aber das ist möglich. Bei uns gibt es sowas etwa bei der Agentur für Arbeit, wo seit 40 Jahren ein Register geführt wird, in dem jeder von uns drin ist und wo jegliche Information darüber, wo wir arbeiten, wann wir mal arbeitslos waren und wie hoch unser Einkommen war, abgespeichert wird. Warum gibt es so etwas nicht im Bereich der frühkindlichen und schulischen Bildung? Es wäre wichtig und möglich, bundesweit hier einen Schritt zu machen. Unser Bildungssystem kann es sich nicht erlauben, an dieser Front gar nichts zu tun.
Redaktion: Herr Professor Helbig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Marcel Helbig ist Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, Stadtsoziologie, Schulpolitik, und regionale Ungleichheiten.