Kann digitale Lernverlaufsdiagnostik das Leseverständnis verbessern?

Tragen digital erhobene Informationen zum Lernverlauf dazu bei, dass Lehrkräfte gezielter fördern und besser unterrichten? Eine Studie unter Drittklässler:innen gibt Aufschluss.

Ein digitales Tool, das Lehrkräften regelmäßig Informationen über die Lernentwicklung ihrer Schüler:innen verrät – wie hilfreich ist das und welche Schüler:innen profitieren davon? Das hat Dr. Alexandra Schmitterer vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) untersucht. Im Interview berichtet sie von ihren Erkenntnissen. 

Redaktion: Frau Dr. Schmitterer, Sie haben eine Studie mit 668 Kindern aus 77 Grundschulklassen der dritten Klassenstufe in Hessen und Niedersachsen durchgeführt, bei der es um die Wirkung von Software zur Lernverlaufsdiagnostik ging. Was genau haben Sie dabei untersucht?

Schmitterer:  Wir haben uns angeschaut, ob gewisse Gruppen von Schülerinnen und Schülern besonders von Lernverlaufsdiagnostik mithilfe entsprechender Software profitieren. Das Prinzip der Lernverlaufsdiagnostik gibt es schon seit den 1980er-Jahren. Es bietet die Möglichkeit, Lehrkräften eine Struktur an die Hand zu geben, mit der sie sich objektiv den Lernverlauf der Kinder in bestimmten Fähigkeiten anschauen können. In der Forschung stand bisher selten die Frage im Mittelpunkt, welche Kinder von den Lehrkräften auf Basis der Diagnostik besonders gefördert werden. Um das herauszufinden, haben wir uns dritte Klassen angeschaut, welche die von der Universität Münster entwickelte Lernverlaufsdiagnostik-Software QUOP einsetzten. Daneben gab es eine Kontrollgruppe aus Klassen, in denen dieses Programm nicht verwendet wurde. Wir haben dann vor den Herbstferien die Rechtschreib- und verschiedene Lesefähigkeiten der Schülerinnen und Schüler mit standardisierten Verfahren gemessen. Nach den Herbstferien bis zu den Osterferien wurden dann in den Klassen, welche die Software nutzten, im Abstand von etwa drei Wochen die Fähigkeiten der Kinder immer wieder erfasst. Dabei wurde mithilfe der Software in abgewandelter Form immer wieder eine gleich schwere Aufgabe gestellt, bei der die Kinder Wortlücken in Sätzen vervollständigen mussten. Das Diagnoseprogramm analysierte dann, wie schnell und wie richtig die Kinder diese Aufgabe bewältigten. Über digitale Verlaufsgrafiken konnten die Lehrkräfte im Laufe des Schuljahres den Entwicklungsverlauf der Leseverständnisfähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler überprüfen und bei Bedarf entsprechend darauf reagieren. Die Klassen aus den Kontrollgruppen hatten dagegen ganz normalen Unterricht ohne solche Messungen. Wir haben dann abschließend nach den Osterferien mit unseren Messverfahren die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten beider Gruppen nochmals erfasst.
 

Redaktion: Was zeigte sich dabei im Vergleich zu Ihrer ersten Messung?

Schmitterer: Wir konnten beobachten, dass sich das Leseverständnis in den Klassen mit Lernverlaufsdiagnostik besser entwickelt hat als in den Kontrollklassen. Dieser Effekt war besonders stark bei den Kindern, die zu Beginn des Schuljahres zu den Lernschwächeren gehörten, sie haben also im Leseverständnis mehr dazugelernt als die Kinder in den Kontrollklassen. Das ist ein schöner Effekt, weil er den Schluss nahelegt, dass die Lernverlaufsdiagnostik die Lehrkräfte dabei unterstützt, für diese Gruppe das Lesenlernen zu verbessern. Interessant ist auch, dass es in anderen Bereichen, die nicht von der Verlaufsdiagnostik erfasst wurden, wie etwa die Rechtschreibung, eine solche Verbesserung gegenüber den Kontrollgruppen nicht gab.

Redaktion: Worauf ist Ihrer Meinung nach diese Verbesserung beim Leseverständnis zurückzuführen?

Schmitterer: Wir wissen von unseren Befragungen der Lehrkräfte, dass 88 Prozent von ihnen sich die individuellen Lernverläufe ihrer Klasse angeschaut haben und diese auch für ihren Unterricht als hilfreich empfanden. Das deutet darauf hin, dass die Ergebnisse aus den regelmäßigen Messungen die Lehrkräfte also tatsächlich dabei unterstützt haben, den Lernverlauf der einzelnen Klassenmitglieder zu objektivieren und den Unterricht zu reflektieren und zu strukturieren – was ja auch das ursprüngliche Ziel der Lernverlaufsdiagnostik ist. Es bedeutet auch, dass die Ergebnisse des digitalen Tools dazu beitragen können, den Unterricht weiterzuentwickeln und gegebenenfalls zu differenzieren und zu individualisieren. Lehrkräfte können dann etwa ihre Aufgabenstellungen entsprechend anpassen oder an der Lesemotivation ansetzen. Gut möglich ist es auch, dass die Software dabei hilft, ein Kind überhaupt als lernschwach zu identifizieren. Gerade das Leseverständnis ist, anders als etwa die Rechtschreibung, ein eher interner, im Unterricht schwer beobachtbarer Lernprozess. Das Diagnoseprogramm kann hier Leistungsstände offenlegen. Am Ende profitieren dann die Lernenden davon, besonders jene, die mit einem gewissen Lernrückstand ins Schuljahr gestartet sind.

Redaktion: Wie ist Ihre Einschätzung dazu, dass sich vor allem die lernschwachen Kinder besser entwickelt haben durch den Einsatz der Diagnosesoftware? Bei den lernstärkeren Kindern hatte der Einsatz der Software ja praktisch keinen Effekt, verglichen mit den Kindern aus den Kontrollklassen.

Schmitterer: Hier fehlt es uns noch an weiterer Forschung, um das sicher beantworten zu können. Meine Vermutung ist, dass sich die Lehrkräfte beim Einsatz der Lernverlaufsdiagnostik zunächst einmal darauf konzentrieren, die schwächeren Kinder aufzufangen und im Lernprozess zu unterstützen. Allgemein stehen wir ja im Moment in Deutschland, wie etwa durch die IGLU-Studie aufgezeigt wurde, vor der großen Aufgabe, jene, die schon in der Grundschule zurückfallen, mitzunehmen und ihnen zu helfen, die notwendigen Basiskompetenzen zu erwerben. Ich denke, dass dies auch die Lehrkräfte entsprechend stark im Blick haben. 

Redaktion: Welche Empfehlung würden Sie Lehrkräften und Schulleitungen geben, die überlegen, eine solche Software zur Lernverlaufsdiagnostik bei sich im Unterricht einzusetzen?

Schmitterer: Wichtig ist, dass die Passung zwischen Unterrichtsinhalten und dem, was die Diagnosesoftware misst, tatsächlich gegeben ist. Das heißt, es ist vorab notwendig, Lernziele und Inhalte des digitalen Tools abzugleichen. Des Weiteren müssen Lehrkräfte im Umgang und Einsatz einer solchen Software qualifiziert vorbereitet werden und gegebenenfalls auch Unterstützung erhalten. Nur so können sich die Verläufe, welche die Software liefert, auch in einem individuell angepassten Unterricht widerspiegeln, der dazu führt, dass die Schülerinnen und Schüler tatsächlich mehr lernen.

Redaktion: Frau Dr. Schmitterer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Alexandra Schmitterer arbeitet im Bereich Psycholinguistik der Universität Paderborn und ist assoziierte Wissenschaftlerin am Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt am Main. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die individuelle sprachliche und schriftsprachliche Entwicklung im Kindergarten- und Grundschulalter und die Lehrpersonenbildung in diesem Bereich.